Folter und Hinrichtungen in der Türkei
OFFENER BRIEF von Ulla JELPKE/ Norman PAECH/ Jürgen KLUTE u.a.
- flickR/ Milov
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, sehr geehrter Herr Außenminister Westerwelle, sehr geehrte Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger,
im Zeitraum vom 17. März 2010 bis zum 26. März 2010 hielten sich mehrere Menschenrechtsdelegationen aus der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei und deren südöstlichen, kurdischen Provinzen auf. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern befanden sich Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Delegierte von Bundestags- und Landtagsabgeordneten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sowie Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler.
Mit großer Besorgnis mussten wir feststellen, dass in der Türkei noch immer gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen werden. In Übereinstimmung mit dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission 2008 und den letztveröffentlichten Jahresberichten von Amnesty International und Human Rights Watch sind wir zu der Erkenntnis gelangt, dass vor dem Hintergrund politischer Instabilität und militärischer Auseinandersetzungen Berichte über Misshandlungen und Folter in der Türkei erneut massiv zunehmen. Allein in den kurdischen Provinzen des Landes beträgt die Zunahme derartiger dokumentierter Fälle von 2005: 284 Fälle auf 2008: 798 Fälle. Auch die dokumentierten Fälle extralegaler Hinrichtungen durch staatliche und paramilitärische Kräfte häufen sich besorgniserregend. Deutlich geworden ist ebenfalls, dass türkische Behörden auf kritische Äußerungen noch immer mit Einschüchterungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen reagieren und Beamte mit Polizeibefugnissen, selbst bei gravierendsten Menschenrechtsverletzungen, straflos bleiben. (Vergleiche auch die Studie von Human Rights Watch: Closing Ranks against Accountability/Barriers to Tackling Police Violence in Turkey)
Besonders möchten wir Sie auf die folgenden Verstöße gegen internationale und nationale Menschenrechtsregulierungen aufmerksam machen. In diesem Zusammenhang möchten wir Sie darum bitten, diese Verstöße an den jeweils entscheidenden Stellen zu thematisieren und im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten juristische Schritte und Sanktionen gegen die für die Menschenrechts-verletzungen Verantwortlichen einzufordern oder einzuleiten – und darüber hinaus alles in ihren Möglichkeiten liegende zu unternehmen, derartig abscheuliche Vergehen in Zukunft zu verhindern:
1. Im Dorf Kel (Buğulukaynak), in der Nähe der Kleinstadt Caldiran (nahe der Türkisch-Iranischen Grenze, in der Provinz Van) wurden am 7. Oktober 2009 drei Personen festgenommen, danach Sondereinheiten des Militärs (Özel Teams) übergeben – und von diesen extralegal hingerichtet. Unter den Ermordeten befand sich der 17jährige Gymnasiast Ibrahim Atabay.
Mitglieder der Jandarma übergaben die 3 Festgenommenen direkt (vor dem Haus der Familie Atabay) den Sondereinheiten, die sie nach lang andauernden Folterungen am Rande einer Schlucht (ca. 500m vom Dorf entfernt gelegen) mit Gewehrsalven hinrichteten. Die Festgenommenen waren nach übereinstimmenden Aussagen mehrerer Augenzeugen unbewaffnet. Bei zwei von ihnen handelte es sich um Guerillas, der Dritte, Ibrahim Atabay, war ein 17 jähriger Gymnasiast aus Kel. Die Leichen hatten zertrümmerte Finger, weitere zertrümmerte Körperteile und zertrümmerte Schädel. Am Rande der Schlucht (dem Tatort) wurden auf einer Strecke von 30 Metern Körperreste und Blutspuren gefunden.
Gleichzeitig zu dieser extralegalen Hinrichtung wurden weitere Familienmitglieder von Ibrahim Atabay in einem Haus der Familie misshandelt und gefoltert. Die Familie Atabay ist wegen Errichtung eines, mittlerweile auf Weisung des türkischen Innneministers Atalay eingerissenen, Mahnmals am Tatort mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert. Ein von der Familie wegen des Vorwurfs der extralegalen Hinrichtungen angestrengtes Gerichtsverfahren wurde unterdessen vom zuständigen Gericht eingestellt.
Sicherheitskräfte und Militärs bedrohten seitdem Mitglieder der Familie Atabay mehrmals. Die betroffene Familie und weitere Dorfbewohner leben in ständiger Angst vor erneuten Übergriffen oder Morden. Selbst der Rechtsanwalt der Atabays ist Drohungen ausgesetzt und kann daher keine effektive Wahrnehmung der Interessen seiner Mandanten umsetzen. Der Bruder Ibrahim Atabays befindet sich seit dem Tag der beschriebenen Tat ohne Anklage im Gefängnis von Van.
Eine weitere Version des Tathergangs, nach der es sich bei der Tat um einen bewaffneten Konflikt zwischen Soldaten und drei Guerillas gehandelt habe, ist aller Erkenntnis nach nicht glaubwürdig. Selbst zum Zeitpunkt der extralegalen Hinrichtungen am Tatort anwesende Soldaten bestätigten den Vorfall, wie oben ausführlich geschildert, detailliert.
Wir sind erschüttert über ein derartiges, gegen internationale und nationale Menschenrechts-regulierungen verstoßendes Verbrechen und die Kontinuität der Menschenrechtsverletzungen durch das Vorgehen staatlicher Behörden und Beamten. Wir fordern die Aufklärung der Verbrechen und dass die dafür Verantwortlichen juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Zudem bitten wir Sie darum, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, die Drohungen und Misshandlungen gegen die Familienmitglieder Ibrahim Atabays und weitere Dorfbewohner sofort zu unterbinden.
2. Mit Erschrecken mussten wir feststellen, dass wenige Tage nach der Rückkehr der Delegationen in die Bundesrepublik, der 14jährigen Junge Mehmet Nuri Tamcoban ebenfalls von türkischen Soldaten in der Nähe von Caldiran verstümmelt und erschossen worden ist.
Auch diesbezüglich fordern wir die Aufklärung des Verbrechens und eine juristische Sanktionierung der dafür Verantwortlichen.
3. In der Nähe der Stadt Sirnak erschossen Soldaten Anfang März den 26-jährigen Kerem Gün. Er war der ehemalige Vorsitzende der Jugendorganisation der Demokratik Toplum Partisi (DTP) in Senoba. Berichten zufolge wurde er gezielt von Soldaten an einem Kontrollpunkt erschossen. In der behördlichen Legitimation wurde von einem bewaffneten Konflikt mit Schmugglern gesprochen. Der Betroffene war unbewaffnet und in Begleitung von sechs Freunden, die allesamt ohne weitere Anklage oder Vorwürfe unbehelligt aus der Situation hervorgingen. Es wurde nach Zeugenaussagen ohne Ankündigung das Feuer eröffnet und die ärztliche Versorgung des Schwerverletzten behindert. Dem Tod des 26-jährigen gingen nach Zeugenaussagen Todesdrohungen durch Angehörige des Militärs voraus.
Auch in diesem Fall fordern wir die Aufklärung des Verbrechens und eine entsprechende Sanktionierung der dafür Verantwortlichen. Es ist erschreckend und unverantwortlich, in welcher Regelmäßigkeit in der Türkei immer wieder Menschenleben (insbesondere von Jugendlichen) von Soldaten oder Staatsbediensteten mit Polizeibefugnissen ausgelöscht werden.
4. Insgesamt wurden in der Türkei seit 2006 mehr als 400 Kinder wegen Teilnahme an Demonstrationen oder vermeintlichen Steinwürfen auf Demonstrationen, entgegen der UNO Kinderrechtsresolution, zu 4-12 Jahren Haft durch für Erwachsene vorgesehene Schwurgerichte für schwere Straftaten verurteilt. Ca. 5000 ähnliche Strafverfahren gegen Kinder und Jugendliche sind noch anhängig. Als Grundlage der Verfahren wird in den meisten Fällen Artikel 8 des "Anti Terror Gesetzes" benutzt. Demzufolge kann eine Teilnahme an einer Veranstaltung, die die Behörden einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung zuschreiben, als Unterstützung oder Propaganda für – oder Mitgliedschaft in derselben ausgelegt werden. Viele Kinder befinden sich in diesem Zusammenhang über eine lange Zeit (teilweise mehr als 9 Monate) in Untersuchungshaft. Die Arbeit von Anwälten wird in vielen Punkten – u.a. mangelnde oder zu späte Akteneinsicht, das Abhören von Mandantengesprächen, Kriminalisierung von und Berufsverbot gegen Anwälte in politischen Verfahren – nicht nur in Verfahren gegen Kinder behindert. Eine effektive Verteidigung ist auf diese Weise kaum möglich.
Wir sind betroffen von einem derartigen Umgang mit Kindern und Jugendlichen und fordern die Einhaltung der UN Kinderrechtsresolution, sowie die Umsetzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch die Türkische Justiz.
5. Eine friedliche und demokratische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts ist anerkannterweise ein zentraler Aspekt der Demokratisierung und perspektivischen Entwicklung der Türkei. Auch der türkische Staatspräsident, Herr Abdullah Gül, ist dieser Ansicht. Um eine realistische Beilegung der jahrzehntelangen Auseinandersetzung möglich zu machen, die ihr zugrunde liegenden Konflikte zu beheben und die begangenen Menschenrechtsverletzungen zu heilen, sind unserer Ansicht nach – und den Erfahrungen der Lösung weiterer, zumindest in Grundzügen vergleichbarer Konflikte entsprechend – u.a. die folgenden Maßnahmen notwendig:
a. die sofortige Beendigung der Kriminalisierung von Vertreterinnen und Vertretern der kurdischen Bevölkerung, von Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern, von Journalistinnen und Journalisten und politischer Aktivistinnen und Aktivisten – auch in Europa und Deutschland;
b. die Freilassung der ab April 2009 inhaftierten ca.1500 Politikerinnen und Politiker, unter denen sich 8 gewählte Bürgermeister der Baris Demokrasi Partisi (BDP), Menschenrechtler (u.a. Regionalvorsitzende des Menschenrechtsvereins Insan Halklari Dernegi / IHD) und Anwältinnen und Anwälte befanden;
c. die Anerkennung sämtlicher kultureller Rechte der kurdischen Bevölkerung;
d. eine positive Erwiderung, der immer wieder seitens der kurdischen Guerilla erklärten einseitigen Waffenstillstände,
e. die Anerkennung des politischen Willens des mehrheitlichen Anteils der kurdischen Bevölkerung, die Abdullah Öcalan als wichtigen Vertreter und Ansprechpartner in einem möglichen Friedensprozess ansehen. Dieser Wille wurde u.a. auf den Newrozfesten der letzten Jahre, bei Kommunal- und Parlamentswahlen, sowie in Petitionen, bei Umfragen und auf Veranstaltungen deutlich zum Ausdruck gebracht;
f. langfristige Konzepte zur Integration der kurdischen Guerilla und sämtlicher politischer Gefangener in die demokratischen Gesellschaftsabläufe – denn ähnlich wie in Südafrika, Nordirland und mehreren südamerikanischen Staaten, ist ein anhaltender Frieden unserer Ansicht nach nur unter Einbeziehung sämtlicher Konfliktparteien möglich.
Wir bitten Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, sehr geehrter Herr Außenminister Westerwelle und sehr geehrte Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, mit positivem Bezug auf die Menschenrechte und das Völkerrecht, darum den von uns formulierten Anliegen Ihre Aufmerksamkeit zu widmen, die Anliegen 1. – 5.d. sofort umzusetzen (oder im Fall der bundesdeutschen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner auf eine sofortige Umsetzung hinzuwirken) – und die Maßnahmen 5.e. bis 5.f., im Sinne einer wissenschaftlichen Analyse, zur Ermöglichung eines anhaltenden Friedens in der Türkei, in Anbetracht der benannten historischen Erfahrungen zu bedenken und schrittweise zu verwirklichen.
Hochachtungsvoll,
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler
Jürgen Klute, Mitglied des Europaparlaments
Ulla Jelpke, Mitglied des Bundestags
Christiane Schneider, Mitglied der Hamburger Bürgerschaft
Martin Dolzer, Soziologe
Michael Knapp, Historiker
Dr. Elmar Millich, Physiker
Sinje Kätsch, Kunsttherapeutin
Robert Jarowoy, Mitglied der Bezirksversammlung Hamburg Altona
Julia Körperich, Rechtsanwältin
Britta Eder, Rechtsanwältin
Brigitte Reis, Physiotherapeutin
Jana Behrens, Medizinische Flüchtlingssolidarität Hannover
Christian Jakob, Journalist
Julia Neuse, Sozialarbeiterin Beate Reis
Wilhelm Engels
Ludger Schulte
Sabine Caspar
Antje Steinberg, Lehrerin, GEW
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Adressaten:
Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Guido
Westerwelle und die Justizministerin der Bundesrepublik Deutschland,
Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
an den Ministerpräsidenten der Republik Türkei, Herrn Recep Tayyip Erdogan,
zur Kenntnis an sämtliche Abgeordnete des Deutschen Bundestags, die Deutsche Botschaft in Ankara und die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch.