Prozessauftakt unter internationaler Beobachtung

PRESSEMITTEILUNG von J. KLUTE/ I. REMMERS/ H. AKBAYIR u.a.

20.10.2010

Nach den Kommunalwahlen im April 2009 starteten die türkischen Behörden eine seit den 1990er Jahren einmalige Repressionswelle gegen kurdische PolitikerInnen, MenschenrechtlerInnen und JournalistInnen. In diesem Rahmen wurden über 5000 Menschen festgenommen, mehr als 1700 von ihnen inhaftiert.

Am Montag den 18.10.2010 fand vor dem 6. Schwurgericht in der kurdischen Metropole Diyarbakir der erste Verhandlungstag eines daraus resultierenden Gerichtsverfahrens gegen 151 Personen statt. Der Prozess ist vorerst bis Mitte November auf 45 Verhandlungstage terminiert. Den Beschuldigten wird „Die Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation oder deren Unterstützung“, sowie die „Gefährdung der nationalen Einheit“ vorgeworfen.

Die Anklageschriften basieren hauptsächlich auf nach den Verhaftungen konstruierten juristisch unhaltbaren Konstruktionen, die auf Telefonüberwachungen und dem Aushorchen von Versammlungen basieren. Vorgeworfen wird den Aktiven konkret der Aufbau von basisdemokratischen Strukturen in den Kommunen der kurdischen Provinzen. Das wird als Mitgliedschaft in oder Propaganda für die KCK/PKK gewertet, da diese das gleiche Ziel proklamiere.

Die Anklageschrift umfasst 7578 Seiten. Die geforderten Strafmaße betragen zwischen 15 Jahren und lebenslanger Haft. Unter den Beschuldigten befinden sich u.a. 10 gewählte BürgermeisterInnen, Murharrem Erbey der Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD, der ehemalige Parlamentsabgeordnete Hatip Dicle, so wie JournalistInnen, Verwaltungsangestellte und ExpertInnen aus Hilfseinrichtungen für traumatisierte Frauen .

Insgesamt waren 160 Abgeordnete aus Landes- und Regionalparlamenten, zahlreiche AnwältInnen sowie Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und Solidaritätsgruppen aus der Türkei, Kurdistan und Europa zur Prozessbeobachtung angereist. Mehr als 10000 Menschen protestierten vor dem Gerichtsgebäude für die Freiheit der politischen Gefangen. Die Umgebung war hermetisch von Polizisten in martialischer Ausrüstung, zum Teil mit Maschinengewehren im Anschlag, abgeriegelt. Wasserwerfer, Räumpanzer und Militärfahrzeuge warteten in Nebenstraßen. Die Kundgebung verlief jedoch trotz mehrfachen Provokationen durch die Polizei friedlich und kraftvoll.

„Es ist unübersehbar, dass die türkische Regierung seit den Kommunalwahlen 2009 in einem besorgniserregenden Ausmaß zu dem Mittel greift funktionierende kommunalpolitische Strukturen, sowie PolitikerInnen und AktivistInnen die internationale Öffentlichkeit schaffen, zu kriminalisieren und zu inhaftieren. Die Demokratische Gesellschaftspartei DTP (nach Verbot Demokratische Friedenspartei BDP) hatte bei den Wahlen 99 Kommunen statt der vorherigen 58 gewonnen. Das Vorgehen der türkischen Behörden ist nicht mit internationalen Menschenrechtsregulierungen zu vereinbaren,“ so Jürgen Klute MdEP, Die Linke.

„Die jetzt eröffneten Verfahren konterkarieren eine mögliche demokratische Entwicklung. Wenn der türkische Staat eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage anstrebt, müssen die ca. 1700 zu Unrecht verhafteten politisch aktiven sofort frei gelassen werden und weitere Schritte unternommen werden.“ ergänzt Ingrid Remmers MdB Die Linke.

„Die Konstruktion der Anklage ist eindeutig politisch motiviert. Das Vorgehen der Behörden von der Festnahme, über die Haftbedingungen bis zur Prozessführung ist unter juristischen Gesichtspunkten inakzeptabel. Türkisches und internationales Recht werden vielfach verletzt, konkretisiert die Rechtsanwältin und Delegierte des Republikanischen Anwältinnen und Anwältevereins (RAV), Britta Eder.

„Wir bekunden unsere Solidarität mit den zu Unrecht beschuldigten. Die rege Beteiligung der internationalen Öffentlichkeit zeigt, dass internationale, humanistisch orientierte Kräfte aus unterschiedlichen politischen Spektren nicht gewillt sind einen derart gravierenden Eingriff in die Organisationsfreiheit und die Menschenrechte seitens des türkischen Staatsapparates tatenlos hinzunehmen“, so Hamide Akbayir, MdL Die Linke NRW.

„Wir halten es für nötig das Schweigen über ein derart gravierendes Unrecht aufzubrechen und werden die nötigen politischen Schritte dazu gehen und die Öffentlichkeit über die unhaltbaren Zustände sowie die anhaltende Rechtlosigkeit der kurdischen Bevölkerung in der Türkei informieren“, bekräftigt Bärbel Beuermann, Fraktionsvorsitzende der Landtagsfraktion, Die Linke in NRW.

„Hier ist auch die Europäische Union gefordert. Um eine konstruktive Rolle für eine demokratische und friedliche Lösung der Kurdenfrage zu spielen, müssen im Zuge der Beitrittsverhandlungen die zahlreichen Verletzungen internationaler Verträge im Menschenrechtsbereich durch die türkische Regierung sehr deutlich benannt werden. Ebenso wichtig ist der Ausstieg aus der seit 2001 stetig wachsenden militaristischen Bekämpfungslogik gegen lästige Bewegungen. Eine Aufhebung der juristisch fragwürdigen und politisch kontraproduktiven EU-Terrorliste wäre hier der erste Schritt," kommentiert Andrej Hunko, MdB Die Linke, eine mögliche Perspektive.

Klute MdEP, Ingrid Remmers, MdB Die Linke, Andrej Hunko MdB, Hamide Akbayir MdL NRW, Bärbel Beuermann, MdL NRW und Britta Eder, Rechtsanwältin und Delegierte des Republikanischen Anwältinnen und Anwältevereins (RAV)