Das Streikrecht: Der Kirche ein Dorn im Auge!
Kirche und Diakonie wehren sich mit missionarischem Eifer gegen die Anwendung des Streikrechts in ihren Einrichtungen. Dabei berufen sie sich auf Art. 140 des Grundgesetzes. Der übernimmt u.a. Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WmRV) von 1919, der den Kirchen zusichert, dass sie im Rahmen der für alle geltenden Gesetze ihre Personalangelegenheiten selbst regeln können.
Gemeint war und ist, dass den Kirchen das Recht übertragen worden ist, über die Besetzung ihrer Pfarr- und Bischofsämter selbst entscheiden zu können, ohne Einmischung des Staates. Und dass sie die Aufgabenbestimmung ihres Personals eigenständig regeln können.
Die Konstituierung eines arbeitsrechtlichen Sonderstatus der Kirchen, wie ihn der heutige Dritte Weg darstellt, hat Art. 137 WmRV hingegen nicht zum Ziel gehabt und seinerzeit auch nicht begründet. Die Kirchen unterlagen während der Weimarer Republik, wie alle anderen Arbeitgeber auch, dem für alle geltenden Arbeitsrecht – einschließlich des Rechts auf Streik. Und selbstverständlich gab es damals auch Streiks in kirchlichen Einrichtungen.[1]
Historische Spuren: Dienstgemeinschaft
Erst Anfang der 1950er Jahre hat die evangelische Kirche ihren heutigen arbeitsrechtlichen Sonderstatus durchgesetzt. Dies erfolgte mit Rückgriff auf den antigewerkschaftlichen Kampfbegriff der "Dienstgemeinschaft", den die Nazis 1938 in der Allgemeinen Tarifordnung für den öffentlichen Dienst (ATO) eingeführt hatten.[2] Der Begriff ist eine Analogiebildung zu dem bereits 1934 von den Nazis eingeführten Begriff der Betriebsgemeinschaft. Der steht im Gegensatz zur linken und gewerkschaftlichen Sichtweise, die im Betrieb den Ort gesehen hat und auch heute noch sieht, an dem der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ausgetragen wird. Die Nationalsozialisten haben diesen grundlegenden Widerspruch negiert und durch die Verwendung der Begriffe "Betriebsgemeinschaft" und "Dienstgemeinschaft" zu übertünchen gesucht.
Selbstverständlich wäre es abenteuerlich, aus der Herkunft des Begriffs der Dienstgemeinschaft eine Nähe der heutigen Kirchen zum Nationalsozialismus ableiten zu wollen. Wohl aber ergibt sich aus der Analyse von H. Lührs, dass der Begriff der Dienstgemeinschaft weder ein genuin kirchlicher noch ein theologisch abgeleiteter oder begründeter Begriff ist, wie die Kirchen bzw. Kirchenjuristen gerne glauben machen wollen. Und man darf aus dem historischen Befund von Lührs auch ableiten, dass die Kirchen mit dem Begriff der Dienstgemeinschaft die aggressiv-gewerkschaftsfeindliche Haltung der Faschisten übernommen haben – soweit Kirche als Arbeitgeberin auf Gewerkschaften trifft.
Im Bereich der privaten Wirtschaft arbeiten Kirchen ja durchaus – etwa in Form des Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt – mit Gewerkschaften zusammen und unterstützen ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit. Denn dort, so die Kirchen, geht es um den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, der die Organisation von Arbeitnehmern in Gewerkschaften erforderlich mache. Innerhalb der kirchlichen Organisationen spiele dieser Konflikt hingegen keine Rolle. Konzeptionell hat die evangelische Kirchen das dann so ausformuliert, "dass die Kirche ihrem Wesen nach etwas anderes als der Staat und als alle anderen Personenverbände des weltlichen Rechts" sind.[3]
Biblisch-theologisch lässt sich eine solche Sicht allerdings kaum begründen. Hat doch Martin Luther die Unterscheidung kirchlichen Handelns und weltlicher Arbeit aufgehoben. Die Arbeit der Mägde und Knechte im Stall war für ihn ebenso Dienst an der Schöpfung Gottes, wie der Dienst des Priesters in der Kirche oder der der Mönche und Nonnen in den Klöstern.
Schauen wir noch einmal auf den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Wenngleich dieser Konflikt innerhalb der Kirche nicht die Rolle spielt, die er in der privaten Wirtschaft einnimmt, so gibt es diesen Konflikt doch zunehmend in dem Maße, wie kirchlich-diakonische Einrichtungen im Rahmen des EU-Binnenmarktes dem Wettbewerb ausgesetzt werden. Zwar gibt es keine privaten Kapitalentnahmen aus kirchlichen Einrichtungen. Wohl aber gibt es den Konflikt um Kostensenkungen und um die Verwendung der erzielten Überschüsse. Das ist eine moderne Variante des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital. Allerdings ist das nicht der einzige Konflikt im Arbeitsleben, mit denen sich Arbeitnehmervertreter befassen müssen.
Waffengleichheit?
In den Verhandlungen Anfang der 1950er Jahre über ihren arbeitsrechtlichen Status (also ob die Kirchen unter das BetrVG oder unter das BPerVG fallen sollen oder nicht) hat die evangelische Kirche der Adenauer-Regierung zugesichert, dass sie keinesfalls auf schlechtere Bedingungen für ihre Beschäftigten ziele, als das Betriebsverfassungsgesetz bzw. das Bundespersonalvertretungsgesetzt sie vorsehen.[4]
Aus heutiger Sicht muss man diese Zusage als eine taktische werten. Denn genutzt haben beide Kirchen ihren arbeitsrechtlichen Sonderstatus, den sie der Adenauer-Regierung abgeschwatzt haben, um Arbeitnehmern v.a. Tarifverträge (Ausnahmen: Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche und die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) und das Streikrecht vorzuenthalten. Heute sichern sich die Kirchen mittels ihres arbeitsrechtlichen Sonderstatus vor allem Kostenvorteile im Wettbewerb mit anderen Akteuren im so genannten Sozialmarkt. So sprach sich beispielsweise die Kirchenkonferenz der EKD im Juni 2005 dafür aus, ein eigenständiges kirchliches Tarifsystem zu entwickeln, das ein um fünf Prozent niedrigeres Lebenseinkommen vorsehen sollte, als der TVöD.[5]
Die kirchlich-diakonischen Einrichtungen tragen aber noch ein anderes Argument vor, mit dem sie den bei ihnen Beschäftigten das Streikrecht streitig machen: Nämlich dass sie in Form einer Selbstverpflichtung in ihren Satzungen auf das Recht auf Aussperrung verzichten. Im Sinne einer "Waffengleichheit" dürfe daher der Arbeitnehmerseite auch kein Streikrecht vom Gesetzgeber zugestanden werden. Nun, wenn kirchlich-diakonische Einrichtungen auf ein ihnen zustehendes Recht verzichten, dann ist das deren Sache. Sie können jedoch nicht verlangen, dass die Arbeitnehmerseite im Gegenzug ebenfalls auf Arbeitskampfinstrumente verzichtet. Kirchlich-diakonische Arbeitgeberinnen verlangen aber nicht einfach von der Arbeitnehmerseite einen Verzicht auf Streikrecht in Form einer Selbstverpflichtung, sondern sie sehen den Ausschluss des Streikrechts als vom Grundgesetz abgesichert an und lassen sich dies arbeitsgerichtlich bestätigen, während die Arbeitgeberseite grundsätzlich zu jeder Zeit von ihrer Selbstverpflichtung zurücktreten kann.
Es gibt einen zweiten Grund, weshalb das Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen nicht als Herstellung einer "Waffengleichheit" interpretiert werden kann, sondern als eine strukturelle Verschärfung der "Waffenungleichheit" zugunsten der Kirchen als Arbeitgeber. Denn ArbeitnehmerInnen haben als einziges direktes Machtinstrument in Arbeitskonflikten den Streik. Die Kirche als Arbeitgeberin verzichtet mit der Aussperrung aber keineswegs auf ihr einziges direktes Machtinstrument. Denn die Aussperrung ist nur eines von mehreren. Selbst wenn das Mitbestimmungsrecht in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich als eines der weitgehendsten zu werten ist, bleibt den Arbeitnehmern die Mitbestimmung in wirtschaftlichen Fragen grundsätzlich vorenthalten. Das heißt, die Kirche bzw. Diakonie sind nicht nur Arbeitgeberinnen. Sie sind zugleich auch Eigentümerinnen der entsprechenden Einrichtungen. Daraus leitet sich ab, dass sie das alleinige wirtschaftliche Entscheidungsrecht haben. Sie können ihre wirtschaftlichen Einrichtungen verlagern, umstrukturieren, Teile davon ausgliedern, verkaufen, fusionieren oder auch ganz schließen. ArbeitnehmerInnen haben nur den Streik als hartes Instrument, um auf Entscheidungen der Arbeitgeberin Kirche bzw. Diakonie Einfluss zu nehmen.
Noch aus einem weiteren Grund überzeugt die kirchliche Argumentation nicht. In Analogie zu Kirche und Diakonie könnten privatwirtschaftliche Unternehmen auf die Idee kommen zu sagen, wir haben uns einen "Code of Conducts" gegeben. Wenn sie dem dann einen Passus hinzufügten, der eine Selbstverpflichtung zum Verzicht auf Aussperrung enthält, könnten sie mit Bezug auf die Kirchen einfordern, dass Streik auch in ihren Betrieben verboten gehöre. Das hieße dann, dass grundgesetzlich garantierte Rechte unter bestimmten Bedingungen durch Selbstverpflichtungserklärungen einseitig von einer der betroffenen Parteien außer Kraft gesetzt werden könnten. Dass Unternehmern und Managern solche Ideen in den Sinn kommen, dürfte für jeden halbwegs lebenserfahrenen Mitmenschen außer Zweifel stehen.
Dass Kirche und Diakonie sich ihrer Macht bewusst sind und sie bereit sind, diese auch in ihrem Sinne zu nutzen, zeigt ein Beschluss, den die Diakonische Konferenz (EKD) im Juni 2010 gefasst hat. Er beinhaltet, dass eine Reihe widerständiger "Arbeitsgemeinschaften der Mitarbeitervertretungen kein Recht zur Benennung [von Vertretern in der Arbeitsrechtlichen Kommission, Anm. d. A.] für die Amtsperiode 2010 bis 2013 haben", also aus der so genannten Arbeitsrechtlichen Kommissionen ausgeschlossen sind.[6] Mit einer Dienstgemeinschaft, in deren Rahmen Arbeitnehmerseite und Arbeitgeberseite vertrauensvoll zusammenarbeiten und sich paritätisch auf gleicher Augenhöhe begegnen, hat das wenig zu tun. Hier wird die Arbeitnehmerseite ihrer schon begrenzten Verhandlungsmöglichkeiten weiter beraubt. Und zwar durch die Arbeitgeberseite, die eben die alleinige Entscheidungskompetenz über einen solchen Ausschluss hat, und gegen die sich die Betroffenen kaum wehren können. Denn die innerkirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit ist in feudalistischer Weise von der Arbeitgeberseite bestimmt und kontrolliert und eben nicht nach den Prinzipien rechtsstaatlicher Gewaltenteilung organisiert.
Arbeitgeberinteressen von Kirche und Diakonie
Den kirchlich-diakonischen Einrichtungen geht es heute primär darum, ihre Interessen als Arbeitgeberin noch ungehinderter gegen die Mitarbeiter durchsetzen zu können als bisher, um sich Wettbewerbsvorteile zu sichern und sich mit dem "Sozialmarkt" zu arrangieren. Der 1998 gegründete Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD, seit 1999 Mitglied des BDA) übertrifft in seiner Radikalität Kirche und Diakonie noch. Mit der Formulierung, dass "sich Kirche und Diakonie dafür entschieden [haben], Streik und Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes auszuschließen", setzt sich der VdDD schlicht über Verfassung und Recht hinweg. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen nach Art. 137 (3) WmRV deutet der VdDD hier kurzerhand zu einem Souveränitätsrecht der Kirchen um, indem er ignoriert, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen eingebunden ist in den Geltungsrahmen des für alle geltenden Gesetzes.
Dass es sich hier nicht um eine überzogene Reaktion im Rahmen eines sich anbahnenden Arbeitskampfes handelt, ergibt sich aus einer Pressemitteilung des VdDD, die vom 17. 04. 2008 datiert. Darin wendet sich der VdDD gegen die Einführung eines Mindestlohns und stellt heraus: "Caritas und Diakonie vereinbaren ihre Vergütungen auf dem „Dritten Weg“ einvernehmlich zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern in paritätisch besetzten Arbeitsrechtlichen Kommissionen; ein staatlicher Eingriff in diese verfassungsrechtlich gesicherte kirchliche Selbstbestimmung durch Mindestlöhne ist deswegen unzulässig." Das heißt, der VdDD deutet Art. 140 GG so, als stünde es in der Kompetenz von Kirche und Diakonie, darüber zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie das Grundgesetz und das staatliche Recht für sich als verbindlich anerkennen.
Des weiteren erklärt der VdDD, dass Mitarbeitende der Diakonie durch ihre Unterschrift unter den Arbeitsvertrag diese Interpretation des Art. 140 GG durch die Kirchen als für sich verbindlich anerkennen. Das meint nichts anderes, als das Mitarbeitenden abverlangt wird, durch ihre Unterschrift unter einen Arbeitsvertrag auf ein ihnen vom Grundgesetz garantiertes Recht – eben auf das Streikrecht – zu verzichten. Ein Akt, der jeder rechtlichen Grundlage entbehrt. Die Vermessenheit dieser Position wird in ihrem vollem Umfang deutlich, schaut man sich an, was das GG zum Streikrecht sagt. Verankert ist es in Artikel 9 GG. Dort heißt es in Satz 3: "Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 (Abs. 2 u. 3), Artikel 87a (Abs. 4) sowie Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.“
Diese Aussagen sind eindeutig. Die in Art. 9, Satz 3 genannten Artikel beziehen sich auf die Wehr- und Dienstpflicht (Art. 12a), die Rechts-, Amts- und Katastrophenhilfe (Art. 35, Abs. 2 u. 3), die Aufstellung und den Einsatz der Streitkräfte (Art. 87a, Abs. 4) sowie auf den inneren Notstand (Art. 91). All diese Artikel behandeln Hoheitsrechte des Staates, die ihn in besonderen Situationen (Katastrophen, Verteidigungsfall, etc.) mit außerordentlichen Rechten ausstatten. Artikel 9 GG bestimmt ohne jede Ausnahme, dass nicht einmal staatliche Maßnahmen in Ausnahmesituationen aufgrund der erwähnten Artikel eine Einschränkung des Streikrechts zur Folge haben dürfen. Die Position des VdDD zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen klingt um so vermessener angesichts dessen, dass selbst ein staatlich ausgerufener Ausnahmezustand laut GG das Streikrecht nicht außer Kraft setzten kann – das Streikrecht von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen durch Art. 9 des GG also einen bedingungslosen Schutz erfährt!
Darüber hinaus sieht der VdDD – anders als das Mitarbeitervertretungsgesetz (MVG) – in der Dienstgemeinschaft weder eine Verpflichtung zu einer vertrauensvollen paritätischen Zusammenarbeit noch ist er bereit, daraus tarifpolitische Konsequenzen im Sinne der Mitarbeitenden abzuleiten. Charakteristisches Merkmal des Dienstgemeinschaftsgedankens ist nach seiner Auffassung eine gemeinsame Außenorientierung auf die Hilfebedürftigen – also ein Cooperate-Identity-Konzept, dass keinesfalls "auf den Erhalt von überkommenen insbesondere tarifpolitischen Rahmenbedingungen gerichtet" sein darf.[7] Auch dem VdDD geht es um nichts anderes als um die Erringung und Absicherung von Wettbewerbsvorteilen durch eine substantielle Beschneidung der Rechte der Mitarbeitenden.
Aufhebung des Sonderstatus
Im Kontext des Europäischen Binnenmarktes könnten sich Kirche und Diakonie mit dieser Politik einen Bärendienst erwiesen haben. Denn der arbeitsrechtliche Sonderstatus der Kirchen führt aus wettbewerbspolitischer Sicht zu einer strukturellen Wettbewerbsverzerrung zulasten der privatwirtschaftlichen Anbieter sozialer Dienste, die auf Dauer nicht hingenommen werden wird und deshalb früher oder später Verhandlungsgegenstand der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofs sein wird.
Angesichts dieser Entwicklungen liegt der Schluss nahe, dass der arbeitsrechtliche Sonderstatus der Kirchen, der so genannte Dritte Weg, in eine fundamentale Krise geraten ist. Evangelische Kirche und Diakonie versuchen das ihnen von Art. 140 GG zugestandene Selbstbestimmungsrecht in ein Souveränitätsrecht umzudeuten, mit dem Ziel, sich Wettbewerbsvorteile zu sichern.
Oskar von Nell-Breuning hat schon 1979 in seinem Artikel "Arbeitnehmer in kirchlichem Dienst"[8] darauf verweisen, dass ein solches Problem entstehen könnte. In diesem Artikel fragte Nell-Breuning nach der Rechtsqualität kirchlicher Regelungen und Ordnungen. Den Kern des Problems sah er darin, dass der Geltungsbereich dieser Regelungen und Ordnungen letztlich auf die kirchlichen Organisatoren begrenzt bleibt, die unmittelbar dem entsprechenden kirchlichen Beschlussgremium unterstehen, das diese beschließt. Alle der Kirche im Sinne des § 118 BetrVG "nur" zugerechneten Einrichtungen und Anstalten (also Einrichtungen der Diakonie und der Caritas sowie kirchliche Stiftungen, Vereine und sonstige kirchliche Organisationen) sind juristisch betrachtet selbständig und unterliegen den von Gremien der verfassten Kirche beschlossenen Regelungen nicht direkt, sondern nur insofern, als die zuständigen Leitungsgremien dieser Einrichtungen die Regelungen der verfassten Kirche jeweils für sich durch Beschluss übernehmen. Nell-Breuning konstatierte hier eine Lücke im Geltungsbereich kirchlicher Regelungen und Ordnungen und kommt zu dem Fazit: "Der Raum, den der Staat gem. Art. 4 Abs. 2 GG und dessen eindeutiger Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht in seine rechtliche Ordnung nicht einbeziehen darf, vielmehr den Kirchen zur selbständigen Regelung überlassen hat, und der Raum, den die Kirchen selbständig zu regeln vermögen, sind nicht deckungsgleich.
Auch wenn die Kirchen alles tun, was ihre eigene Struktur ihnen gestattet, und alles ausschöpfen, was unser Staatskirchenrecht ihnen an Befugnissen zuerkennt, vermögen sie den in § 118 Abs. 2 BetrVG für sie freigehaltenen, ihnen zur Gestaltung nach ihrer Einsicht und ihrem Ermessen überlassenen Raum nicht auszufüllen; so verbleibt eine empfindliche Lücke."[9] Anders formuliert: Die Kirche verfügt hier zwar über einen erheblichen Gestaltungsraum, verfügt aber nicht über die entsprechenden Instrumente, um die im Rahmen dieses Freiraums beschlossenen Regelungen und Ordnungen in allen der Kirche zugeordneten Organisationen durchzusetzen, da die Kirche nicht über die dafür erforderlichen, aus guten Gründen allein dem Staat vorbehaltenen, Erzwingungsinstrumente verfügt. Die aktuellen Entwicklungen in der evangelischen Kirche sind nichts anderes als eine praktische Bestätigung der seinerzeit noch theoretischen Erörterungen Nell-Breunings.
Die EKD weiß um die Krise des Dritten Wegs. Das lässt sich der EKD-Schrift von 2006 "Kirche der Zukunft" entnehmen. Denn dort heißt es auf Seite 33, dass es "keine mit Heiligkeit versehene äußere Ordnung der Kirchen" gäbe und "keine unveränderbare Hierarchie". Organisationsfragen als solche dürften nicht dogmatisch überhöht werden, folgert die EKD aus dieser Einsicht. "Diese theologische Entlastung des Kirchenverständnisses eröffnet den Raum für eine aktive Gestaltung der kirchlichen Strukturen nach den jeweiligen sachlichen Erfordernissen." Damit hat die EKD sich von der oben beschriebenen Position der 1950er Jahre abgewendet, dass die Kirche eine allen weltlichen Organisationen unvergleichbare Einrichtung sei. Die EKD sollte diese Neupositionierung nicht weiter zu einer neoliberalen Umformung ihrer Strukturen missbrauchen. Stattdessen sollte sie sie nutzen für eine längst überfällige Demokratisierung der kirchlich-diakonischen Arbeitswelt und Tarifverträge abschließen sowie das Streikrecht als Grundrecht aller ArbeitnehmerInnen in Kirche und Diakonie respektieren. Der einzig sinnvolle und demokratisch legitime Schluss kann nur sein, den Sonderstatus im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzuheben – und damit der ursprünglichen Intention des Art. 137 (3) der WmRV wieder zu ihrer Gültigkeit zu verhelfen!
[1] (Vgl. Susanne Schatz, "Zunächst, meine Herren, möchte ich meiner Freude über den Abschluss des Tarifvertrags Ausdruck geben". In: Jürgen Klute/Franz Segbers: "Gute Arbeit verlangt ihren gerechten Lohn". Tarifverträge für die Kirchen. Hamburg 2006, S. 53-57. [2] Vgl. Hermann Lührs, Dienstgemeinschaft als Abgrenzungsprinzip, Uni Tübingen 30.10.2006. [3] Vgl. Konrad Stopp, Untersuchung über das kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht. Arbeitsbericht. 1961. S. 1. Zitiert nach: Klute/Segbers, a.a.O., S. 71. [4] Vgl. Traugott Jähnichen: "Das die Kirche hierbei allen berechtigten sozialen Anforderungen nachkommt, ist selbstverständlich". In: ebenda, S. 58-68. [5] Vgl. Protokoll der Kirchenkonferenz der EKD, 231. Sitzung vom 30.06.2005. In: ebenda, S. 177; sowie ZMV 4/2010, S. 193, zu den Tarifentwicklungen in den Altenheimen Stephanusstift u.a.. [6] Vgl. Protokoll der Sitzung der Diakonischen Konferenz vom 15. 06. 2010, TOP 5.1. [7] VdDD-Rundschreiben an seine Mitglieder vom 07.02.2007 anlässlich des Beschlusses des EKD.KGH zur Mitbestimmung bei Leiharbeit vom 09.10.2006, S. 5. [8] In: Klute/Segbers, a.a.O., S. 121-139. [9] Ebenda, S. 133.