Simon Gronowski: Das Kind aus dem 20. Deportationszug nach Auschwitz
Am 19. April 1943 stoppen drei junge Männer einen Zug, der 1.618 Juden vom belgischen Sammellager Mechelen nach Auschwitz transportiert. Ausgerüstet mit drei Zangen, einer mit rotem Papier beklebten Sturmleuchte sowie einer Pistole, führen Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau einen Plan
aus, den jüdische Widerständler erdacht, bewaffnete Partisanen aber als zu riskant verworfen hatten.
Sie befreien 17 Männer und Frauen, dann eröffnen die deutschen Bewacher das Feuer.
Die Befreiung der Gefangenen war ein gewagter Plan, den Robert Maistriau und seine Schulfreunde Jean Franklemon und Youra Livchitz aushecken. Livchitz, ein junger Brüsseler Arzt, ist der Kopf der Gruppe. Als Kommunist und Jude druckte er in einem Künstleratelier Flugblätter gegen die verhassten Deutschen. Hier fasste er den ungeheuren Plan, den Deportationszug zu überfallen. Um den Zug zum Anhalten zu zwingen, stellten sie eine rote Laterne auf die Gleise. Nur mit ein paar Kneifzangen wollten sie dann die Waggons aufbrechen und die Menschen befreien.
Die Soldaten im ersten und letzten Waggon waren von der waghalsigen Befreiungsaktion völlig überrascht. "Wir hatten ein irres Glück", erinnert sich Maistriau, einziges noch lebendes Mitglied des kleinen Kommandos vom 19. April 1943. Der Zug kam und er hielt. "Ich war überrascht von der ungeheuren Stille in diesem Moment. Man hörte keinen Laut, kein Vogelzwitschern. Nichts außer dem Zischen der Lokomotive. Ich ging zum Zug und stand direkt vor einem Waggon. Ich nahm meine Werkzeuge, öffnete die Tür. Mir standen etwa 50 Menschen gegenüber, die alle schwiegen."
Zwei Frauen sprangen als erste heraus, eine Handvoll Männer folgte. "Fliehen Sie! Fliehen Sie!", rief der 22-Jährige den Insassen auf Deutsch zu. Dann peitschten Schüsse durch die Nacht. 17 Menschen verließen den Waggon schließlich und brachten sich im nahen Wald in Sicherheit. Aus dem Waggon nebenan hörte Maistriau Stimmen: "Öffnen Sie! Öffnen Sie!" Doch da rollte der Zug schon wieder an. Bis der 20. Konvoi die deutsche Grenze erreicht, können weitere 225 Insassen fliehen. Sie hatten mit eingeschmuggelten Messern Löcher in die Viehwaggons gebohrt und konnten noch rechtzeitig aus dem fahrenden Zug abspringen. 23 Juden starben bei dem Fluchtversuch unter dem Kugelhagel des Begleitschutzes oder durch einen unglücklichen Sturz. Alle Entkommenen konnten auf die Hilfe der belgischen Bevölkerung rechnen.
Am 19. April 1943 springt der damals elfjährige Simon Gronowski in sein neues Leben. Nicht ahnend, wohin der Zug unterwegs ist: nach Auschwitz. Simon Gronowski erinnert sich: "Meine Mutter sagte auf Jiddisch zu mir: 'Der Zug fährt zu schnell.' Das waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Plötzlich ist der Zug langsamer geworden, und in diesem Moment bin ich gesprungen." Für Simon Gronowski waren es die letzten Momente bei seiner Mutter: "Ich höre, wie die Wachen in meine Richtung laufen, weil sie etwas bemerkt hatten. Sie schießen und schreien. Meine Mutter konnte nicht mehr springen. Ich bin in den Wald
gelaufen, die ganze Nacht bin ich gelaufen, aber meine Mutter habe ich nie wiedergesehen."
Simon Gronowskis Mutter wird in Auschwitz ermordet. Simon Gronowski flieht und hat Glück. Er wird von seinen belgischen Landsleuten versteckt. In den Deportationslisten müssen die Nazis ihn, und fast 200 weitere Juden als geflohen vermerken. Der Hass der Nazis trifft die Befreier des Zugs. Sie werden gefasst und kommen selbst ins KZ. Ihr Anführer Youra Livchitz wird am 2. Juni 1943 zum Tode verurteilt und erschossen.
Am 21. Mai lade ich Simon Gronowski, den letzten der noch lebenden Geretteten des 20. Deportationszugs nach Auschwitz zu einer Diskussion ins Europäische Parlament. Wem es möglich ist, zu kommen kann sich unter juergen.klute@ep.europa.eu anmelden.
Mehr zur Veranstaltung: http://www.juergen-klute.eu/de/topic/11.termine.html?id=121