Von wegen „Schwatzbude“
Gewiss, noch gibt es Begrenzungen und Skurrilitäten. Aber das Europaparlament ist in dieser Wahlperiode einflussreicher gewesen denn je. Fünf Beispiele zeigen, wie deutsche Abgeordnete wichtige Gesetze beeinflusst haben.
- Christopher Ziedler
In seiner letzten Sitzung vor der Wahl am 25. Mai hat das Europaparlament noch einmal einen Beschluss gefällt, der die Bundesverfassungsrichter in ihrem Urteil bestärken dürfte. Da wurden doch tatsächlich neue Regeln für Druckbehälter wie Kompressoren oder Feuerlöscher verabschiedet. Stimmt die Argumentation also doch, dass sich das EU-Parlament eher um technische Themen kümmert, folgenlose Resolutionen verabschiedet, keine Regierung wählt und kontrolliert, weshalb Karlsruhe ihm eine stabilitätsfördernde Drei-Prozent-Klausel bei der Wahl verweigerte?
Die Realität der vergangenen Legislaturperiode sieht dann doch ein wenig anders aus. Die Degradierung zur vermeintlichen Schwatzbude wäre schon vor dem 1. Dezember 2009 ein wenig billig gewesen, seither ist sie schlicht falsch: Der damals in Kraft getretene Lissaboner Vertrag, hat den Abgeordneten eine Fülle neuer Rechte gegeben. Noch freilich gibt es Beispiele dafür, dass Dinge am Europaparlament vorbei geschehen. So basiert etwa der Euro-Rettungsschirm ESM auf einem Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten, und selbst eine Parlamentsmehrheit konnte nicht verhindern, dass eine bestimmte Genmaissorte die Marktzulassung erhalten soll. Aber das sind dennoch Ausnahmen: Der neue EU-Vertrag macht die Kammer in fast allen Politikfeldern zum gleichberechtigten Mitentscheider.
Ganz neu war, dass sie ihre Zustimmung zum europäischen Siebenjahreshaushalt bis 2020 geben musste. Erstmals mussten auch eine Agrarreform und eine Reform der Fischereipolitik das Plenum passieren – sie wären sonst wohl ziemlich anders ausgefallen. Am sichtbarsten wurde jedoch möglicherweise das neue Recht, dass Abkommen der EU mit anderen Staaten oder Staatengruppen der parlamentarischen Zustimmung bedürfen. So wurde nicht nur die erste Fassung des Bankdatenabkommens Swift mit den USA abgelehnt, sondern auch das strittige Urheberrechtsabkommen Acta beerdigt.
Im normalen Gesetzgebungsverfahren, in dem sich die Abgeordneten mit den Regierungen der Mitgliedstaaten über eine Vorlage der EU-Kommission einigen müssen, wurden in der siebten Legislaturperiode des Parlaments sage und schreibe 970 Rechtsakte erlassen. Über gut 45 000 Änderungsanträge wurde abgestimmt. Von besonderer Bedeutung waren die sogenannte Bankenunion und die Finanzmarktregulierung als Teil der Krisenbewältigung. Dabei wurden etwa der maschinengesteuerte Hochfrequenzhandel an der Börse, die Spekulation mit Nahrungsmitteln und Bonuszahlungen an Banker eingeschränkt. Lobbyschlachten gab es rund um die beiden wichtigen Gesundheitsdossiers Lebensmittelverpackungen und Tabakprodukte. Beide fielen am Ende nicht so streng aus, wie sich das Verbraucherschützer oder Mediziner gewünscht hatten. Im Umweltbereich wurden unter anderem neue CO2-Obergrenzen für Autos beschlossen.
Kein neues Gesetz dagegen gibt es bisher für mehr Datenschutz, obwohl der NSA-Skandal und Edward Snowdens anderen Enthüllungen – die das Europaparlaments als erstes Gremium in einem Untersuchungsausschuss behandelte – die Dringlichkeit neuer Regeln mehr denn je demonstrierten. Das liegt jedoch nicht am Parlament, wo es im März quasi fraktionsübergreifend eine große Mehrheit für die neue Datenschutzverordnung gab – vielmehr haben sich die Mitgliedstaaten, ohne die auch nichts geht, untereinander noch nicht einigen können. Das Gesetz soll dafür angeblich eines der ersten sein, das in der achten Wahlperiode beschlossen wird.
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Jürgen Klute: Ein Konto für jedermann
Anders als viele in seiner Partei hält Jürgen Klute das Europaparlament für „viel demokratischer als den Bundestag“. Zur Begründung seiner These verweist der 60-Jährige auf die Statistik. In Berlin reichten die Oppositionsfraktionen in der vergangenen Legislaturperiode 172 Gesetzesinitiativen ein – angenommen wurde nicht eine. Dagegen führten rund die Hälfte der Initiativen des EU-Parlaments, dessen formal fehlendes Initiativrecht häufig beklagt wird, zu konkreten Gesetzen.
So geht auch das im März verabschiedete Recht auf ein Konto auf das Parlament zurück, da die EU-Kommission zuvor keinen Gesetzentwurf hatte vorlegen wollen. Als er dann kam, meldete der Sozialpfarrer Klute aus Nordrhein-Westfalen, der auch in der Schuldnerberatung tätig war, Interesse an, das Thema stellvertretend für das Parlament zu betreuen.
In Zukunft darf niemandem in Europa mehr die Eröffnung eines Kontos verweigert werden – ob sie nun überschuldet, nur geduldete Flüchtlinge oder Auslandsstudenten sind. Neun Millionen Betroffene dürften Jürgen Klute dankbar sein, dass es ihnen in Zukunft einfacher fallen dürfte, am öffentlichen Leben teilzunehmen, Wohnung oder Arbeit zu bekommen. In der Linken selbst hat er dafür aber kaum Anerkennung erfahren, weil der Rechtsanspruch auf ein Konto, wie Klute sagt, „nicht hundertprozentig antikapitalistisch“ sei – zumal sich die Forderung nach einen kostenlosen Konto für alle nicht durchsetzen ließ. Beim Wahlparteitag fiel er bei den aussichtsreichen Positionen durch und tritt nun aus Protest nicht mehr an.
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DER BEITRAG VON CHRISTOPHER ZIEDLER IST AM 10. MAI 2014 IN DER STUTTGARTER ZEITUNG ERSCHIENEN!