Das Elend der EU-Asylpolitik

Ein Jahr nach der Flüchtlingstragödie von Lampedusa

29.11.2014
Jürgen Klute

Anfang November startet das neue Frontex-Programm Triton. Es löst das italienische Programm Mare Nostrum ab. Letzteres war eine Antwort auf die Flüchtlingstragödie vom 3. Oktober 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa. Über 360 Flüchtlinge aus Nordafrika ertranken bei der Tragödie vor gut einem Jahr. Unter anderem auch deshalb, weil die italienische Marine bis zu dem Zeitpunkt keine Flüchtlinge retten durfte, sondern die Landung an italienischen Küsten von Booten mit Flüchtlingen an Bord verhindern sollte. Nach dem Tod der über 360 Flüchtlinge änderte die italienische Regierung diese Politik und initiierte das Programm Mare Nostrum. Damit wurde die italienische Marine beauftrag, weit vor der Küste Italiens nach Flüchtlingsbooten zu suchen und die Flüchtlinge an Bord zu nehmen, um sie sicher ans italienische Festland zu bringen. Dieses Programm, das von Italien finanziert wurde, wird nun eingestellt. An seine Stelle tritt das von Frontex koordinierte Programm Triton. Allerdings steht bei Triton der Schutz der italienischen Küsten im Vordergrund. Das heißt, es soll so genannte illegale Einwanderung verhindern. Die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot steht damit nicht mehr im Fokus. Zudem konzentriert sich Triton auf die Küstenregionen und nicht auf das offene Meer, wie es bei Mare Nostrum der Fall war.

Die Flüchtlingspolitik wird seit den 1990er Jahren auf EU-Ebene geregelt und koordiniert. Da liegt es nahe, die EU pauschal zum Sündenbock für diese skandalöse Politik zu machen. Doch das wäre sachlich falsch und deshalb wäre es auch wenig hilfreich im Bemühen um eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik in der EU.

Man muss sich vor Augen führen, dass die EU kein homogener politischer Block ist. Sie besteht vielmehr aus den drei Institutionen EU-Rat, EU-Kommission und EU-Parlament. Und die haben nicht nur unterschiedliche Aufgaben, sondern verfolgen auch unterschiedliche Interessen. Zudem ist die interne Machtverteilung zwischen diesen drei Institutionen keineswegs ausbalanciert – wenngleich das EU-Parlament als die bisher einzig demokratisch legitimierte unter den drei Institutionen durch den Lissabon Vertrag erheblich mehr an Mitentscheidungskompetenzen erlangt hat und somit der EU-Rat in den meisten Fällen ohne die Zustimmung des Parlaments keine Richtlinien und Verordnungen mehr beschließen kann.

Die gegenwärtige EU-Flüchtlingspolitik spiegelt vor allem die Interessen der Regierungen der Mitgliedsländer wider. Sie wurde begründet mit dem Dubliner Übereinkommen von 1990, das 1997 in Kraft trat. Diese Übereinkunft war ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Regierungen der damaligen 12 EU-Mitgliedsstaaten und weiteren europäischen Staaten. Es war also noch kein EU-Recht im heutigen Sinne.

2003 wurde dieses völkerrechtliche Abkommen ersetzt durch die so genannte Dublin-II-Verordnung des EU-Rates. Bei dieser Verordnung handelt es sich um EU-Recht, dass zum damaligen Zeitpunkt aber noch vom Rat ohne Mitentscheidungsverfahren des EU-Parlaments beschlossen wurde. Dementsprechend spiegelt auch Dublin-II vorrangig die Interessen der Regierungen der EU-Mitgliedsländer wider und nicht etwa gemeinsame europäische Interessen geschweige denn die viel beschworenen EU-Menschenrechtsstandards.

Im Juli 2013 trat dann die Dublin-III-Verordnung in Kraft. Diese Verordnung wurde vom EU-Rat und dem EU-Parlament im Mitentscheidungsverfahren nach dem Lissabon Vertrag beschlossen. Substantielle Veränderung der EU-Flüchtlingspolitik hat die Dublin-III-Verordnung jedoch nicht erbracht.

Die Dublin-Verordnung verfolgt drei Ziele: Zum einen regelt die Verordnung, dass jedem Asylsuchenden, der im Geltungsbereich der Verordnung einen Asylantrag stellt, garantiert wird, dass ein entsprechendes Verfahren durchgeführt wird. Des weiteren ist geregelt, dass das EU-Mitgliedsland, in dem ein Asylsuchender die EU erreicht, für die Durchführung des Asylverfahrens verantwortlich ist. Wir dem Asylsuchenden Asyl gewährt, dann ist das EU-Mitgliedsland, das ihm Asyl gewährt, auch weiterhin für ihn zuständig. Er kann also nicht weiterziehen oder weitergeleitet werden in ein anderes Mitgliedsland. Alle Kosten, die mit diesem Verfahren verbunden sind, muss der aufnehmende Mitgliedsstaat tragen. Und drittens soll verhindert werden, dass ein Asylsuchender mehr als einen Antrag innerhalb der EU stellt. Dazu regelt die Dublin-Verordnung den Datenaustausch (vor allem den Austausch von Fingerabdrücken) bezüglich der Asylantragstellenden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten.

So schafft die Dublin-Verordnung zwar Rechtssicherheit im Blick auf die Durchführung eines Asylverfahrens – dass aber auf einer sehr restriktiven Rechstbasis.

Und sie führt zu fragwürdigen Ergebnissen für die EU-Mitgliedsstaaten. In Deutschland ist die Zahl der Asylanträge massiv zurück gegangen, da die BRD keine EU-Außengrenzen hat (die Nordseeküste kann man nicht wirklich als EU-Außengrenze bezeichnen). Die meisten Asylsuchenden kommen aus Nordafrika über das Mittelmeer nach Italien, Spanien, Malta und Griechenland. Die wirtschaftliche und soziale Integration der Asylsuchenden liegt nach der Dublin-Verordnung allein in der Verantwortung der Aufnahmeländer. Die genannten Länder gehören zudem zu denen, die seit Ausbruch der EU-Finanz-Krise unter enormen wirtschaftlichem Druck stehen und aufgrund der von der Bundesregierung durchgesetzten rigiden Sparpolitik an die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten stoßen. Das führt in diesen Ländern zu massiven gesellschaftlichen Konflikten bzw. zu steigender Ausländerfeindlichkeit und Rassismus.

Sinnvoll wäre deshalb eine proportionale Aufteilung der Asylsuchenden auf alle EU-Mitgliedsstaaten. Vor der Verabschiedung der Dublin-III-Verordnung ist die Einführung eines Schlüssel zur Aufteilung von Asylsuchenden auf alle EU-Länder ins Gespräch gebracht worden. Aber die Bundesregierung hat sich mit ihrer Ablehnung eines solchen Schlüssels durchsetzen können.

Hat sich das Parlament bei der Dublin-III-Verordnung noch weitgehend auf den Ratspositionen eingelassen, hat es seine Position nach der Flüchtlingstragödie vom 3. Oktober vor Lampedusa korrigiert. Am 23. Oktober 2013, also nur wenige Tage nach der Tragödie vor Lampedusa, hat das EU-Parlament eine Resolution verabschiedet, die an den Rat gerichtet war, auf dessen Tagesordnung für den 26. Oktober 2013 auch dieses Thema stand.

Diese Resolution formuliert klare Forderungen an den Rat in Bezug auf eine Reform der EU-Flüchtlingspolitik. Die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge soll zu einer Kernaufgabe der Grenzüberwachung gemacht werden. In die Neuverordnung für gemeinsame Frontex-Einsätze auf See sollen verbindliche Regeln zur Seenotrettung aufgenommen werden. Alle europäischen und nationalen Gesetze, die die Rettung von Flüchtlingen in Seenot unter Strafe stellen, sollen reformiert werden. Weiterhin werden Verfahren für eine gerechte und proportionale Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Mitgliedsstaaten eingefordert, um die südeuropäischen Staaten zu entlasten (derzeit nimmt nicht einmal die Hälfte der 28 EU-Staaten Flüchtlinge auf). Auch sollen Flüchtlinge nicht mehr in Aufnahmeländer zurück geschickt werden dürfen, wenn deren Asylsystem überlastet ist, was aktuell auf Griechenland, Malta und Italien zutrifft.

Darüber hinaus fordert das EU-Parlament einen fairen Zugang zum europäischen Asylsystem und die Entwicklung legaler Zugangsmöglichkeiten im Rahmen der Migration von Arbeitskräften.

Eine entsprechende Reform des EU-Asylrechts steht bis heute aus. Sie hat nicht einmal begonnen. Die Hauptblockade sind nationale Egoismen einiger EU-Länder, zu denen auch die Bundesrepublik gehört. Die Überwindung dieser Blockaden dürfte angesichts einer erstarkenden Rechten und eines neuen Nationalismus in vielen Mitgliedsländern nicht einfach sein.

Cecilia Malmström, die bis Ende Oktober 2014 für dieses Thema zuständige EU-Innenkommissarin, hat den Jahrestag der Flüchtlingstragödie vom 3. Oktober 2013 vor Lampedusa zum Anlass genommen, kurz vor dem Ende ihrer Amtsperiode dieses skandalöse Versäumnis noch einmal zur Sprache zu bringen. In ihrer Presseerklärung dazu vom 2. Oktober heißt es: "Die Bilder von Lampdusa sind noch immer in meinem Kopf. Sie sind eine schreckliche Erinnerung daran, dass wir danach streben müssen, dass Europa offen bleibt für jene, die Schutz suchen". [...] "Ich will sehr klar sein - wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht, ist die Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten noch weitgehend inexistent. Das ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für die Zukunft."

Dem ist nichts hinzuzufügen. Bleibt zu hoffen, dass der EU-Rat – genauer gesagt: die Innenminister der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten – seine Blockadehaltung aufgibt und sich endlich bewegt!