Soziales Europa - Ruhe in Frieden?
Bericht von der Tagung der Linksfraktion (GUE/NGL) im EP und des Forum Soziales Europa zur Ausstiegsstrategie der EU aus den Konjunkturprogrammen am 9.12.2009 in Brüssel
Die EU will bereits ab 2010 ihre meisten Mitgliedstaaten auf eine rigorose Politik zum Abbau der öffentlichen Verschuldung einschwören und spätestens bis 2011 die nationalstaatlichen Konjunkturprogramme beenden, wo es sie noch gibt. Der dadurch zu befürchtende noch massivere Sozialabbau in Europa war Thema der Tagung von Linksfraktion und dem Forum Soziales Europa, einem europäischen Netzwerk kritischer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter.
Lothar Bisky (Fraktionsvorsitzender der GUE/NGL), Horst Schmitthenner (IG Metall) und Nicola Nicolosi (CGIL) machten in ihren Begrüßungsansprachen deutlich, dass Gewerkschaften, soziale Bewegungen und politische Kräfte eine gemeinsame Politik des Widerstands gegen diese Pläne entwickeln müssten.
Ziel dieser Tagung war, zunächst eine ungeschminkte Bestandsaufnahme zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in der EU, der Politik der EU-Institutionen und Mitgliedstaaten und des Widerstands dagegen zu machen.
Prof. Jill Rubery von der Manchester Business School zog in ihrem Beitrag zunächst eine Bilanz, wie verschiedene Politiken der EU-Ebene (einschnürende makroökonomische Politik für den Stabilitätspakt, „Strukturreformen" zur Liberalisierung des EU-Binnenmarkts und zur Flexibilisierung der Arbeitmärkte) die tradierten Sozial- und Beschäftigungsmodelle der Mitgliedstaaten unter Druck gesetzt und negativ verändert haben. Die EU wolle das ‚Europäische Sozialmodell' und die Beschäftigungsmodelle ihrer Mitgliedstaaten angeblich bewahren, wozu ihre „Modernisierung" nötig sei.
Diese orientiere sich an zwei Hauptgedanken: als Reaktion auf die ‚Globalisierung' müssten die Arbeitsmärkte weiter flexibilisiert werden (Flexicurity-Ansatz) und zur Bewältigung der demografischen Entwicklung (‚Überalterung der Gesellschaft') müssten nach dem Motto ‚Hauptsache Arbeit' alle Schichten der Bevölkerung für den Arbeitsmarkt ‚aktiviert' werden. In der Krise würden beide Strategien das Problem des Wachstums prekärer Beschäftigungsverhältnisse verschärfen, da Arbeitsplätze massiv verloren gehen.
Jürgen Klute MdEP gab einen knappen Überblick zu den bisherigen Auswirkungen der Krise in der EU, die völlig unzureichenden Konjunkturprogramme der Mitgliedstaaten und die Eckpunkte der bereits eingeleiteten Ausstiegsstrategie.
In der anschließenden Debatte wurde die Bestandsaufnahme durch Länderberichte weiter vertieft. In Frankreich hat sich die wirtschaftliche Lage und die öffentliche Verschuldung weiter verschlechtert und der anfänglich breite Widerstand mit zwei Generalstreiks ist einem Klima völliger Hoffnungslosigkeit gewichen, so Patrick Le Hyaric MdEP von der französischen KP.
Demgegenüber scheint Italien eines der wenigen EU-Länder zu sein, wo nach einer Welle von Generalstreiks die Mobilisierung für eine alternative Anti-Krisenpolitik relativ ungebrochen weiter geht, so Nicola Nicolosi von der Gewerkschaft CGIL. Jordi Ribo von der spanischen Gewerkschaft CCOO und Carlos Carvalho von der portugiesischen CGT berichteten, dass ihre Gewerkschaften mit Vorschlägen zum sozialen und ökologischen Umbau eine breite Mobilisierung gegen die Politik der sozialdemokratischen Regierungen beider Länder einleiten wollen. Die progressiven Gewerkschaften der Mittelmeerländer drängen auf ein koordiniertes Vorgehen des Europäischen Gewerkschaftsbunds und seiner Mitgliedsgewerkschaften.
Alfred Rubiks MdEP (Lettland) machte auf die katastrophale soziale und wirtschaftliche Lage in seinem Land und den baltischen Staaten aufmerksam, die durch die von IWF und EU erzwungene rigorose Rotstiftpolitik zum Schuldenabbau drastisch verschärft würde. Kaloyan Dobrev von der bulgarischen Chemiegewerkschaft berichtete, dass die neue bulgarische Regierung zwar für einige wenige Großbetriebe Kurzarbeitergeld-Regelungen in Stellung gebracht habe. Das Gros der Betriebe und Beschäftigten bleibe aber sich selbst überlassen. Hinzu kommen ebenfalls einschneidende Kürzungen beim Öffentlichen Dienst und den öffentlichen Investitionen.
Nikos Chountis MdEP (Synapsismos-Syriza) stellte die verzweifelte Lage Griechenlands dar: statt 6,7 % betrage das Haushaltsdefizit seines Landes tatsächlich rund 12,5 %, wie die neue PASOK-Regierung einräumen musste. Schon zuvor seien strukturelle Probleme der griechischen Ökonomie deutlich geworden, die zusammen mit der hohen Verschuldungsquote Stoff für Spekulationen über einen bald bevorstehenden Staatsbankrott gäben.
In weiteren Beiträgen wurde deutlich, dass insbesondere in den Mittelmeerländern der EU der Anteil der nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung rasant zunimmt (insbesondere Jugendliche) und die stark gestiegenen offiziellen Arbeitslosenzahlen eher noch geschönt seien. Der Staat sei bereits in den vergangenen Jahren kaum noch in der Lage gewesen, die bestehenden Steuern einzutreiben – was die Explosion der öffentlichen Verschuldung in der Krise verstärkt habe.
Insgesamt ergab sich aus den Beiträgen der Debatte ein um einiges pessimistischeres Bild der Lage, als es selbst in Qualitätsmedien gezeichnet wird.