"Ich will nicht begreifen, dass es uns spaltet."
REDE von GREGOR GYSI auf dem GÖTTINGER PARTEITAG
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste,
schon vielfach wurde in Reden betont, dass unsere Partei in einer extrem schwierigen Situation ist. Ich will zunächst an den Beginn zurückkehren. 1989/1990 scheiterte der Staatssozialismus und so wie er war zu Recht. Die Menschheit wollte ihn nicht als Alternative zum Kapitalismus. Wir, die wir versuchten, aus der SED heraus eine demokratisch reformierte sozialistische Partei zu gestalten, waren aber der Überzeugung, dass der Kapitalismus nicht die verbleibende Alternative ist, dass es sich lohnt, für einen demokratischen Sozialismus zu streiten. Diese Partei, die PDS, war erfolgreich und es bringt nichts, wenn man ihr den Erfolg abspricht, obwohl sie 2002 nicht die 5 %-Hürde überschritt und nur zwei und nicht drei Direktmandate erreichte. Sie war aber als Volkspartei erfolgreich. Das ist eine deutlich andere Situation als in den alten Bundesländern. Die PDS blieb aber auf den Osten beschränkt, hatte nur kleine Landesverbände im Westen und spielte bundespolitisch eine viel zu geringe Rolle. Oft wird Funktionären der Landesverbände Ost vorgeworfen, dass sie um Akzeptanz ringen, sich dadurch anpassen, einordnen und die Eigenständigkeit nicht genügend wahren. Auch ich habe mich zum Teil dieser Kritik angeschlossen. Aber im Kern ging es doch nicht um Akzeptanz bei anderen Parteien, sondern um Akzeptanz in der Bevölkerung. Und die zu erreichen ist für eine linke Partei mehr als außerordentlich wichtig. Ich sagte schon, der Staatssozialismus war gescheitert und diese PDS hat es geschafft, Jahr für Jahr ihre Akzeptanz in den neuen Bundesländern zu erhöhen. Andererseits stand aber fest, dass die Zukunft dieser Partei fraglich ist, wenn sie es nicht schaffte, in der gesamten Bundesrepublik Deutschland Akzeptanz zu finden, bundespolitisch eine größere Rolle zu spielen.
Nachdem SPD und Grüne die Regierung übernahmen und zunehmend eine unsoziale Politik betrieben, prekäre Beschäftigung organisierten, den Niedriglohnbereich ausdehnten, Steuerungerechtigkeit herstellten und sich entschlossen, Deutschland erstmalig nach 1945 an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu beteiligen, entschlossen sich immer mehr Wählerinnen und Wähler der SPD, aber auch Mitglieder der SPD dieser den Rücken zu kehren. Deshalb wurde bekanntermaßen die WASG gegründet. Und dann war es von außerordentlicher Bedeutung, dass sich Oskar Lafontaine entschied, das Ganze zu unterstützen. Er verlangte aber die Vereinigung von WASG und PDS. Und weder er hätte dies verlangt noch hätte sich die WASG mit der PDS vereinigt, wenn die PDS vorher nicht erfolgreich gewesen wäre. Es gibt viele, die einen Anteil an den Erfolgen der PDS haben. Aber besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang Lothar Bisky, der diesbezüglich große Leistungen vollbracht hat. Das gilt auch für Michael Schumann, der leider tödlich verunglückt ist, es gilt für André Brie, dem ich beste Genesung wünsche, es gilt für Heinz Vietze, ja und es gilt auch für Dietmar Bartsch. Natürlich gab es auch Frauen, die Bedeutendes leisteten. Besonders hervorheben möchte ich Christa Luft. Apropo Dietmar Bartsch. Ich habe ihn auch schon deutlich kritisiert. Einige verlangten jetzt von mir, dies zu wiederholen. Da er sich aber seitdem korrekt verhalten hat, kommt für mich eine Wiederholung gar nicht in Frage. Und um die Zuspitzung unserer Krise zu verhindern, habe ich verschiedene Kompromisse vorgeschlagen, die auch für Dietmar Bartsch nur schwer zu verkraften waren. Sie scheiterten aber nicht an ihm. Zurück zu unserer Entwicklung. Es fand dann der Parteitag der PDS statt, wo alles im Zusammenhang mit der WASG entschieden wurde.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich auf diesem Parteitag für die Namensänderung, für das Zusammengehen mit der WASG, für die Akzeptanz von Oskar Lafontaine stritt und zwar hartnäckig stritt, und ich kann mich auch noch gut erinnern, wer dagegen gesprochen hat. Darum geht es mir aber nicht. Ich möchte nur sagen, es war kein leichter Kampf, das zu erreichen. Und da wir keinen Beitritt wollten, sondern eine Vereinigung, haben wir in Kauf genommen, einen komplizierteren Prozess zu gestalten. Damit hängt zusammen, dass auch bei diesem Parteitag im Vergleich zu den Mitgliederzahlen die Delegiertenzahl zugunsten der Landesverbände der alten Bundesländer deutlich verschoben sind. Aber ich muss heute sagen, dass der Prozess nicht gelungen, die Vereinigung nicht erreicht ist. Wir haben viele Gruppen in unserer Partei und ich rede jetzt nicht von den organisierten Strömungen, die sich Schritt für Schritt zu Personalvertretungen bzw. Kaderkommissionen entwickelt haben und meinen aussuchen zu können, wer wann wo auf welche Liste kommt, kandidieren darf etc. Ich meine die politisch wichtigen Teile unserer Partei. Da gibt es die prononcierten Vertreterinnen und Vertreter des Modells der Volkspartei im Osten. Und zwar leider auch solche mit Vorbehalten gegen die Interessenpartei im Westen. Dann gibt es die prononcierten Vertreterinnen und Vertreter der Interessenpartei im Westen, und zwar noch mehr unter ihnen, die bedauerlicherweise mit Vorbehalten gegen die Volkspartei im Osten beschieden sind. Dann gibt es den Gewerkschaftsflügel und es gibt diejenigen, die sich als unabhängige Linke fühlen, die nicht missbraucht werden wollen, weil sie weder mit der Geschichte der WASG noch mit der Geschichte der PDS sich verbunden fühlen. Sie sind für die Zukunft wichtig, allerdings ist ihre Basis noch schwach.
Jetzt möchte ich aber schildern, was ich einigen Funktionären der Landesverbände Ost zu Beginn übel genommen habe. Nachdem Oskar Lafontaine 2005 einer unserer Spitzenkandidaten wurde, haben einige von ihnen eine Distanz zu ihm aufgebaut, die ich nicht nachvollziehen konnte und die ich falsch fand. Und der Gewerkschaftsflügel dachte, dass er pragmatisch sei und schon deshalb Unterstützung gerade von den östlichen Landesverbänden erwarten könne und musste ebenso die Erfahrung machen, dass es dort ihm gegenüber in bestimmten Teilen auch eine Distanz gab. Inzwischen ist eine Situation eingetreten, in der sich der Gewerkschaftsflügel eng an die prononcierten Vertreterinnen und Vertreter der Interessenpartei mit Vorbehalten gegen die Volkspartei anbindet. Aber wenn ich das hier feststelle, bedeutet das nicht, dass ich eine Arroganz gegenüber den östlichen Landesverbänden auch nur im geringsten akzeptieren kann. Es geht doch nicht im Ernst, dass ich permanent von bestimmten Leuten nur Kritik höre an den Landesverbänden vornehmlich in Brandenburg und Berlin, dass sie mir immer deren Fehler schildern und niemals einen Hauch von Selbstkritik üben. Nach der Bundestagswahl 2009 hatten wir verschiedene Landtagswahlen. Hinsichtlich der Länder, in denen wir in die Landtage wiedergewählt wurden, haben wir im Vergleich zur vorher gehenden Landtagswahl nur in Mecklenburg-Vorpommern etwas gewonnen und in Hamburg das gleiche Ergebnis erzielt. Etwas oder etwas mehr verloren haben wir in Sachsen-Anhalt, Bremen, Berlin und im Saarland. Trotzdem waren die Ergebnisse noch gut, wobei wir allerdings in Berlin aus der Regierung herausgewählt wurden, was inzwischen immer mehr Berlinerinnen und Berliner bedauern.
Aber in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz haben wir den Einzug in die Landtage nicht annähernd geschafft, und in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen sind wir eindeutig aus den Landtagen herausgewählt worden. Und manche meinen, dass man zu den genannten Niederlagen fast nichts sagen muss? Es soll genügen, auf die Fehler der Bundespartei und der Landesverbände in Berlin und Brandenburg und der anderen Landesverbände im Osten zu verweisen? Fehler haben wir alle begangen, auch die Landesverbände in Berlin und Brandenburg. Aber diese haben auch vieles vollbracht. Wenn schon nicht in den Medien, so müsste es doch wenigstens in unserer Partei zulässig und erlaubt sein, auf diese Leistungen hinzuweisen. Es tut mir leid, aber eine bestimmte Kritik von Mitgliedern aus den alten Bundesländern erinnert mich an die westliche Arroganz bei der Vereinigung unseres Landes. Das darf es aber in unserer Partei nicht geben. Und ich verstehe es auch nicht. Was ist denn eigentlich so schlimm daran zu akzeptieren, dass wir im Osten eine Volkspartei sind. Was ist denn eigentlich so schlimm daran, umgekehrt zu akzeptieren, dass wir im Westen eine Interessenpartei sind? Warum kann uns das nicht bereichern, warum geht es nicht zusammen? Ich will nicht begreifen, dass es uns spaltet.
Ich habe gesagt, was mich zu Beginn am Umgang einiger Funktionäre unserer Partei aus dem Osten mit Oskar Lafontaine und dem Gewerkschaftsflügel störte. Ich muss aber auch umgekehrt sagen, die östlichen Landesverbände sind keine sozialdemokratische Partei und lassen sich so auch nicht führen. Wenn man eine Integration will, muss man auch die Seele der ostdeutschen Mitglieder verstehen. Die kann man aber nur verstehen, wenn man sich auch darum bemüht. Lasst mich kurz zu einigen Vorwürfen Stellung nehmen. Also die östlichen Landesverbände seien zu oft angepasst, würden eigentlich nur eine zweite Sozialdemokratie anstreben. Darf ich darauf hinweisen, dass unsere Partei in Thüringen deutlich stärker ist als die SPD, dass unsere Partei in Sachsen deutlich stärker ist als die SPD, dass unsere Partei in Sachsen-Anhalt deutlich stärker ist als die SPD. Worin seht Ihr denn die Gefahr, ist das nicht eine erfolgreiche Politik? Davon sind wir in den alten Bundesländern so etwas von meilenweit entfernt, dass ich schon deshalb die Vorwürfe nicht nachvollziehen kann. Und darf ich zusätzlich darauf hinweisen, dass die SPD Koalitionen mit uns in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ablehnte? Nur weil die Landesverbände ihr so ähnlich sind, nur weil sie mit einer zweiten Sozialdemokratie nicht koalieren will? Das ist doch absurd. Im Übrigen bitte ich folgendes zu bedenken. Unsere Wählerinnen und Wähler erwarten von uns ein eigenständiges Bild, sie erwarten von uns klare, verständliche und nachvollziehbare politische Vorschläge. Sie wollen nicht, dass wir die Kopie einer anderen Partei sind. Aber viele Wählerinnen und Wähler wollen auch, dass wir für sie etwas erreichen, etwas gestalten, daran mitwirken. Sie wollen mehr soziale Gerechtigkeit bei Löhnen, bei der Rente und im Gesundheitswesen erleben. Sie wollen Chancengleichheit für Kinder in der Bildung. Und vieles andere mehr. Dazu muss man konkret und aktiv kommunalpolitisch, landespolitisch, bundespolitisch und europapolitisch wirken. Dazu muss man auch mit anderen zusammenarbeiten. Selbstverständlich.
Man muss seine Eigenheit wahren, man muss seine Prinzipien schützen, aber auch kompromissfähig sein, um für die Menschen etwas zu erreichen. Jede und jeder, die und der Kompromisse schließt, begeht auch Fehler. Aus denen können wir alle lernen. Das aber ist etwas anderes als arrogante, distanzierte Vorwürfe. Natürlich kann man Wählerinnen und Wähler verlieren, wenn man falsche, prinzipienlose Kompromisse schließt. Aber man verliert auch Wählerinnen und Wähler, wenn man erklärt, dass man sich auf die SPD nur dann einlässt, wenn sie unsere Beschlüsse umsetzt, und zwar möglichst vollständig. Die Wählerinnen und Wähler wissen, dass das irreal ist. Eigentlich sollte ich ja über die Tätigkeit unserer Fraktion berichten. Wir haben viele gute Anträge eingebracht, wichtige politische Akzente gesetzt, sind aktiv innerhalb und außerhalb des Bundestages aufgetreten. Aber der Zustand unserer Fraktion ist nicht gut. Zwei Erlebnisse aus unserer Fraktion möchte ich schildern, weil sie mich beeindruckt haben.
Bei einem Erlebnis war Oskar Lafontaine dabei, und er war ähnlich beeindruckt. Wir sprachen über den Koalitionsvertrag, den unser Landesverband in Brandenburg mit der SPD geschlossen hatte. Und in der Fraktionssitzung sprachen sehr viele. Und fast alle, die in den alten Bundesländern aufgewachsen waren und sprachen, haben den Koalitionsvertrag kritisiert und erklärt, dass sie ihn abgelehnt hätten. Und fast alle, die in den neuen Bundesländern aufgewachsen waren und sprachen, haben erklärt, dass er in Ordnung ginge und dass man die Koalition zu diesen Bedingungen abschließen konnte. Warum dieser tiefgreifende Unterschied? Haben wir das je gemeinsam analysiert, und zwar vernünftig? Es gab ein weiteres Erlebnis. Wir hatten eine Diskussion, ob wir gänzlich gegen Sicherungsverwahrung sind – dafür stand Halina Wawzyniak – oder ob wir die Sicherungsverwahrung in Ausnahmefällen zulassen sollten – dafür stand Wolfgang Neskovic. Ich habe vorher nie erlebt, dass Abgeordnete, die gegen die Sicherungsverwahrung waren, aber politisch deutlich näher bei Wolfgang Neskovic als bei Halina Wawzyniak stehen, eine solche Schwierigkeit bei der Abstimmung hatten. Man wird nicht mehr von der Sache getrieben, sondern weitgehend von der Person, die eine bestimmte Meinung vertritt oder einen bestimmten Antrag stellt. Es tut mir leid, liebe Genossinnen und Genossen, aber das ist für mich ein pathologischer Zustand. Entweder bin ich für oder gegen Sicherungsverwahrung, und das entscheidet über meine Stimmabgabe und nichts anderes. Seitdem wir die gemeinsame Partei DIE LINKE gebildet haben, hatten wir zahlreiche Erfolge zu verzeichnen. Einer, der einen besonders wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, ist Oskar Lafontaine. Wer das leugnet oder nicht sieht, hat nicht den geringsten Sinn für Realitäten. Bekanntlich verträgt DIE LINKE zwei Dinge nicht, Niederlagen und Erfolge. Den größten Erfolg hatten wir 2009. Eine Akzeptanz von fast 12 Prozent derjenigen, die zur Wahl gingen zu erreichen, ist für eine Partei wie unsere geradezu grandios. Der Dank gilt in erster Linie denjenigen, die uns gewählt haben. Sie haben es ja freiwillig getan, allerdings nur, weil wir sie davon überzeugt haben, uns zu wählen. Ich möchte daran erinnern, dass wir zunächst einen Parteitag hatten, auf dem es um die Europawahlen ging, und da haben sich beim Programm diejenigen durchgesetzt, die die Interessenpartei prononciert vertreten und Vorbehalte gegen die Volkspartei haben, diejenigen, die als radikalere Linke gelten. Sie haben das als Erfolg gefeiert, aber das Wahlergebnis war nicht berauschend. Daraufhin haben wir als Partei insgesamt verstanden, dass der Erfolg der Gruppe A über die Gruppe B zur Niederlage in der Gesellschaft für A und B führte. Deshalb verlief der Parteitag, mit dem wir die Bundestagswahlen vorbereiteten, gänzlich anders. Es wurden schon vorher Kompromisse gesucht und gefunden. Wir haben mit großer Mehrheit das Bundestagswahlprogramm verabschiedet. Ich kann mich noch sehr genau an meine Rede erinnern, die bei Euch auf breite Zustimmung stieß. Und dann haben wir mit allen Mitgliedern vehement einen Wahlkampf führen können. Die Mitglieder haben wir gewonnen, weil sie uns einig und entschlossen erlebt haben und die Anliegen unseres Wahlprogramms teilten. Ohne Mitglieder kann man keinen intensiven Wahlkampf führen, ohne sie hat man keine Multiplikatoren. In den alten Bundesländern erreichten wir 8,7 Prozent der Stimmen. Die alte Bundesrepublik war und ist ein militant antikommunistisches Land. Eine Partei links von der Sozialdemokratie hatte dort niemals eine reelle Chance und wir schafften 8,7 Prozent. Ich bitte Euch, dass ist wirklich ein grandioser Erfolg. Aber ich muss hinzufügen, im Osten schafften wir 28,5 Prozent, d.h. fast 30 Prozent. Fast ein Drittel der Wählerinnen und Wähler haben uns gewählt. Nach dem Scheitern des Staatssozialismus ist das doch wohl mehr als grandios. Seitdem betreiben wir aber immer weniger Politik, haben Auseinandersetzungen und führen Personaldebatten, bei denen es im Kern um unterschiedliche politische Konzepte geht. Vertragen wir es nun, Volkspartei und Interessenpartei zu sein oder vertragen wir es nicht? Ist es tatsächlich so, dass die einen die Eigenheit gegenüber der SPD bewahren und die anderen sie aufgeben wollen? Die einen setzen mehr auf Kooperation mit der SPD als die anderen, das ist wahr. Aber ich kann nur sagen: Na und? Eine bestimmte Stärke im Landtag erfordert auch ein anderes Herangehen. Man kann mit Wahlergebnissen von über 20 Prozent nicht permanent erklären, dass man sowie so nur in Opposition bleibt und gar nicht bereit sei, etwas zu verändern, es sei denn, die anderen machten genau das, was man selber will. Warum kann man das nicht akzeptieren, wenn man selber mit 5 Prozent in einen Landtag gewählt wird? Und umgekehrt, warum fällt es manchen im Osten so schwer zu akzeptieren, dass man sich als 5 Prozent-Partei anders verhalten muss als eine 25 Prozent-Partei. Als 5-Prozent-Partei muss man prononciert bestimmte Interessen vertreten, nicht das gesamte Spektrum. Es sind unterschiedliche Bedingungen. Sicher, wir sind die einzige Partei, die strukturell vor einer solchen Frage steht. Aber ich hätte nie gedacht, dass sie fast unlösbar ist. Und jetzt sage ich Euch mein eigentliches Problem gerade in unserer Fraktion. Vieles führt in der politischen Kultur nicht zusammen. Es gibt Meinungsunterschiede. All das wäre nicht erheblich. Mit alledem müssten wir umgehen können. Aber in unserer Fraktion im Bundestag herrscht auch Hass. Und Hass ist nicht zu leiten. Seit Jahren versuche ich, die unterschiedlichen Teile zusammen zu führen. Seit Jahren befinde ich mich zwischen zwei Lokomotiven, die aufeinander zufahren. Und ich weiß, dass man dabei zermalmt werden kann. Seit Jahren bin ich in der Situation, mich entweder bei der einen oder bei der anderen Gruppe unbeliebt zu machen, und ich bin es leid. Ich sage es hier so offen wie möglich. Entweder wir sind in der Lage, eine kooperative Führung zu wählen, die die Partei integriert und die organisiert, dass wir in erster Linie wieder politisch wahrgenommen werden, von den Bürgerinnen und Bürgern, von den Medien, von den anderen Parteien. Dann würde ich das begrüßen und dann stelle ich mich auch diesem Kampf. Oder aber wir sind dazu nicht in der Lage, was bedeutete, dass die Gruppe A nun doch die Gruppe B besiegt oder die Gruppe B die Gruppe A. Für den Fall sage ich Euch offen: Es ist dann besser, sich fair zu trennen als weiterhin unfair, mit Hass, mit Tricksereien, mit üblem Nachtreten eine in jeder Hinsicht verkorkste Ehe zu führen. Unser größtes Ziel ist es, eine solidarische Gesellschaft zu erreichen und wir selber führen vor, nicht einmal untereinander solidarisch sein zu können. Ich habe noch einmal in der Bergpredigt nachgelesen, welche Vorschläge Jesus Christus unterbreitet hat, wie man mit seinen Feinden umgehen soll. Wenn wir wenigstens den Zustand in unserer Partei erreicht hätten, wären wir schon einen deutlichen Schritt weiter.
Liebe Genossinnen und Genossen, ich habe heute das gemacht, was ich eigentlich nicht will. Ich habe über unsere innere Situation gesprochen und nicht über Politik. Aber ich hatte keine andere Chance. Eigentlich haben wir kein Recht, unsere Partei zu verspielen. Dass Ihr mich trotzdem nur begrenzt frustriert erlebt, hat seinen Grund. Ich sage es noch einmal, wir haben gezeigt, was eine Linke leisten, welche Akzeptanz sie erreichen kann. Das ist ein wichtiges Signal für die nächste Generation. Darauf können wir und mithin auch ich schon etwas stolz sein. Und jetzt betreiben wir nur das, was DIE LINKE in solchen Situationen regelmäßig betreibt, wir zerstören uns selbst. Nur finde ich, es muss nicht sein. Ich kann es aber nicht ausschließen, dass weiß ich. Der Hang zur Selbstzerstörung hat damit zu tun, dass man Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt. Eine Volkspartei hat allerdings schlechtere Chancen, Realitäten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Bei einer Interessenpartei besteht eine größere Gefahr, weil der Kreis zu eng ist, in dem sie sich bewegt. Gerade deshalb könnte man sich ja gegenseitig helfen statt sich zu bekämpfen. In Europa finden gravierende Auseinandersetzungen statt. Viele Linke in anderen Ländern, jetzt gerade besonders in Griechenland, setzen auf uns. Mir war es unheimlich, als wir zu einer Art Vorbild für die europäische Linke wurden. Aber nun verspielen wir es zu sehr.
Zum Schluss sage ich Euch aber, dass unser Kampf für Frieden, zur Erklärung der Ursachen und für eine Lösung der Finanz- und Eurokrise, für soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit, für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, für ein gerechtes Renten- und Gesundheitssystem, für eine Gleichstellung von Frauen und Männern und von Ost und West bei Biografien, Löhnen und Renten, dass unser Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und jede andere Form von Rechtsextremismus entscheidende Ziele in der Gesellschaft bleiben und an Bedeutung gewinnen werden. Wir haben doch nicht nur Rechte, sondern auch eine Verantwortung.
Liebe Delegierte, Ihr habt eine schwere Aufgabe. Von den Verantwortungsträgerinnen und –trägern unserer Partei – mich eingeschlossen – habt Ihr wenig – zu wenig – Unterstützung bekommen. Ihr müsst den Weg finden, eine kooperative Führung zu wählen. Die unterschiedlichen Teile unserer Partei müssen in der Leitung vertreten sein. Man muss sie zusammenführen, allerdings, um sie als Flügel zu entmachten. Ihr müsstet einen Parteivorstand wählen, der die Aufgabe annimmt, dafür zu sorgen, dass solche Kämpfe, wie wir sie gegenwärtig erleben, nicht mehr geführt werden können. Ich beneide Euch nicht um Eure schwere Aufgabe, aber ich sage Euch zuletzt, eine integrierte linke Partei ist nicht vornehmlich wichtig für uns, sondern wichtig für die Menschen in Deutschland, in Europa. Ich wünsche Euch eine glückliche Hand und einen klugen Kopf.