"Heute wecken wir eine neue Türkei, einen neuen Mittleren Osten, eine neue Zukunft."

FRIEDENSAPPELL von ABDULLAH ÖCALAN zum KURDISCHEN NEUJAHR 2013

26.03.2013

Meine besten Wünsche zu Newroz, dem Freiheitsfest der Unterdrückten!

Meine Grüße gehen an die Völker des Mittleren Ostens und Zentralasiens, die an diesem Tag gemeinsam den Tag des Erwachens, des Aufbruchs und des neuen Lebens feiern. Meine Grüße gehen an alle Brüder und Schwester, die begeistert und respektvoll Newroz feiern, das Licht, das den Wendepunkt einer neuen Epoche markiert. Meine Grüße gehen an alle Reisenden, die den langen Weg gehen, um demokratische Rechte, Freiheit und Gleichheit zu erreichen.

Meine Grüße gehen an das kurdische Volk: das Volk, das die Hänge des Zagros und Taurus und die Täler des Euphrat und Tigris bewohnt. Meine Grüße gehen an das kurdische Volk: an ein Volk, das aus der Antike stammt. An die Bewohner des heiligen Lands Mesopotaniens und Anatoliens, wo die erste Landwirtschaft, die ersten Dörfer und Städte geborden wurden.

Das kurdische Volk hat über Jahrtausende in Freundschaft und Eintracht mit Völkern unterschiedlichster Herkunft, Religion und Bekenntnissen gelebt. Es hat seine Geschichte und Kultur gemeinsam mit ihnen errichtet. Für die Kurden sind Euphrat und Tigris Geschwister der Flüsse Sakarya und Mariza. Die Berge Ararat und Cûdî sind für uns Freunde der Kaçkar- und Erciyes-Berge. Die ostantolischen Tänze Halay und Delilo stammen aus derselben Familie wie die Horon-Tänze des Schwarzen Meeres oder die Zeybek-Tänze der Ägäis.

Es ist nicht sehr lange her, dass man versucht hat, die Erben dieser großen Zivilisationen, die so lange gemeinsam gelebt haben, zu unterdrücken. Dass sie gegeneinander ausgespielt wurden durch Eingriffe von außen ebenso wie durch die eigene Suche nach Vorteilen. Die Ordnungen, die so errichtet wurden, gründeten sich nicht auf Recht, Gleichheit, Freiheit oder den Respekt der Menschenrechte. Seit 200 Jahren versucht man mit Eroberungskriegen, imperialistischen Interventionen des Westens, mit Unterdrückung und Verleugnung, arabische, türkische, persische und kurdische Gemeinwesen in Nationalstaaten zu versenken. Künstlich werden Grenzen und Probleme erfunden.

Doch die Zeit der Kolonialregime, der Gewaltherrschaft und der Verleugnung ist abgelaufen. Die Völker des Mittleren Ostens und Zentralasiens wachen auf. Sie erkennen ihre wahren Wurzeln. Sie lassen sich nicht länger verblenden und fordern ein Ende der Kriege und Kämpfe gegen ihresgleichen. Ergriffen vom Newroz-Feuer, füllen die Menschen zu Hunderttausenden und Millionen die Plätze, um Frieden zu verlangen. Freundschaft. Eine Lösung.

Mein Auflehnen gegen die Ausweglosigkeit, gegen die Ignoranz und Knechtschaft, in die ich hinein geboren wurde, hat sich zu einem Kampf um ein neues Bewusstsein, ein neues Denken, ein neuen Geist entwickelt. Heute kann ich sehen, wie weit dieser Aufschrei gedrungen ist. Unser Kampf hat sich zu keinem Zeitpunkt gegen irgendeine ethnische, religiöse oder soziale Gemeinschaft gerichtet und wird dies niemals tun. Unser Kampf richtete sich gegen Gewalt, Unwissen, Sektiererei, erzwungene Rückständigkeit und gegen jede Art von Unterdrückung.

Heute wecken wir eine neue Türkei, einen neuen Mittleren Osten und eine neue Zukunft. Mein Appell richtet sich an die Jugend, die auf ihn hören wollen, an die Frauen, die ihn beherzigen wollen, an die Freunde, die meine Botschaft akzeptieren wollen, an alle Menschen, die meinen Ruf hören können:

Heute beginnt einen neue Ära. Die Phase des bewaffneten Kampfes endet und die Tür demokratischer Politik öffnet sich. Eine politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung beginnt. Eine neue Weltanschauung breitet sich aus, die auf demokratische Rechten, Freiheiten und Gleichheit wacht.

Wir haben Jahrzehnte unseres Lebens für dieses Volk geopfert und einen großen Preis gezahlt. Keines dieser Opfer, keiner dieser Kämpfe war vergebens. Sie haben den Kurden ihre Identität und Selbstachtung zurückgegeben. Wir haben den Zeitpunkt erreicht, an dem wir sagen: Lasst die Waffen schweigen, lasst die Ideen, lasst die Politik sprechen. Das Paradigma der Moderne, das uns vernachlässigte, ausschloss und verleugnete, liegt am Boden. Sei es von Türken, Kurden, Lasen oder Tscherkessen – es sollte kein menschliches Blut auf diesem Boden fließen.

Vor Millionen von Zeugen, die diesen Aufruf hören, sage ich: Eine neue Ära beginnt; eine Ära, in der Politik schwerer wiegen wird als Waffen. Die Zeit ist gekommen, in der sich unsere bewaffneten Kräfte hinter die Grenze zurückzuziehen müssen. Ich bin der Überzeugung, dass alle, die an unsere Sache glauben und mir vertrauen, sich über der Verletzlichkeit dieses Prozesses bewusst sind, und alles dafür tun werden, ihn zu verteidigen. Dies ist kein Ende, sondern ein Neubeginn. Es geht nicht darum, den Kampf zu beenden, sondern darum, einen neuen, anderen Kampf zu beginnen.

Geographische Gebiete zu schaffen, die nur einer Nation Raum geben, ist eine unmenschliche Vorstellung der kaptialistischen Moderne, die unsere Herkunft verleugnet. Jedem unter uns obliegt die große Verantwortung, ein Land zu schaffen, das der Geschichte Kurdistans und Anatoliens würdig ist, und das all seinen Völkern und Kulturen Gleichheit, Freiheit und Demokratie bietet.

Anlässlich dieses Newrozfestes appelliere ich an die Armenier, Türkmenen, Aramäer, Araber und alle anderen Völker ebenso wie an die Kurden, das Licht der Freiheit und Gleichheit, das aus den heute angezündeten Feuern leuchtet, auch als ihr eigenes Licht der Freiheit und Gleichheit zu betrachten.

Verehrtes Volk der Türkei,

Das türkische Volk, das heute in der modernen Türkei – dem antiken Anatolien – lebt, soll wissen, dass das gemeinsame Leben, das sie mit den Kurden unter der Flagge des Islam teilen auf den Prinzipien von Freundschaft und Solidarität beruht. Nach den Gesetz der Verbrüderung darf und wird es keinen Platz geben für Unterwerfung, Verleugnung, Zurückweisung, erzwungene Assimilierung oder Vernichtung.

Die im vergangenen Jahrhundert im Zuge der kapitalistischen Modernisierung betriebene Politik der Repression, Vernichtung und Assimilierung schöpfte seine Kraft nicht aus dem Volk. Es war eine kleine Elite, die sich an der Macht befand, und ihre Politik gegen den Willen des Volkes, die Gesetze der Geschichte und die Pinzipien der Brüderlichkeit durchsetzte. Heute ist offensichtlich, dass dieses Joch der Tyrannei im Widerspruch steht zur Brüderlichkeit und Geschichte. Um es gemeinsam abzuwerfen appelliere ich an uns als die beiden grundlegenden strategischen Mächte des Mittleren Ostens, sich die Hand zu geben, um gemeinsam eine demokratische Moderne zu errichten, die ihrer Geschichte und Kultur gerecht wird.

Es ist die Stunde gekommen, in der Schlachten, Krieg und gegenseitige Verachtung weichen müssen. Es schlägt die Stunde der Einheit, der guten Wünsche, der Vergebung und des Wiedersehens.

Die Türken und Kurden die Seite an Seite im Unabhängigkeitskrieg gekämpft haben sind auch Seite an Seite in Çanakkale gefallen. Und 1920 haben sie gemeinsam das Parlament der Türkei gegründet. Unsere gemeinsame Geschichte ist eine Realität, die uns den Weg in eine gemeinsame Zukunft weist und uns verpflichtet, unser Schicksal gemeinsam in die Hand zu nehmen. Der Gründungsgeist der Nationalversammlung der Türkei erleuchtet die neue Ära, die heute beginnt.

Ich appelliere an alle unterdrückten Völker, Klassen und Kulturen, an die Frauen als erste und am längsten unterdrückte Gruppe, an die Angehörige der benachteiligten Konfessionen, Glaubensrichtungen und Kulturen, an die Angehörigen der Arbeiterklasse und aller vom System Ausgegrenzten, auf dass sie teilnehmen an der Gründung der demokratischen Moderne. Nehmt den Platz darin ein, der euch zusteht!

Der Mittlere Osten und Zentralasien sind auf der Suche einer zeitgemäßen Moderne und einer demokratischen Ordnung, die zu ihrer eigenen Geschichte passen. Es muss ein Modell gesucht werden, dass das freie und freundschaftliche Zusammenleben aller zulässt. Solch ein Modell zu finden ist zu einem Bedürfnis geworden, so lebensnotwendig wie Brot und Wasser. Um dieses Modell zu erschaffen, ist es unvermeidlich, auch die antiken Kulturen Anatoliens und Mesopotaniens als Vorbild heranzuziehen.

Beinahe wie während des Unabhängigkeitskrieges, als Türken und Kurden sich über den Nationalpakt verbündeten, müssen wir heute an diese alte Beziehung anknüpfen und sie noch tiefer mit Leben füllen. Trotz aller Fehler und Irrwege, die in den vergangenen 90 Jahren begangen wurden, werden wir versuchen, ein neues Modell zu errichten, bei dem wir alle bislang unterdrückten Völker, Klassen und Kulturen einbeziehen. Ich rufe alle diese Gruppen dazu auf, aus dem Schatten zu treten, um beim eines egalitären, freien und demokratischen Gemeinwesens mitzuhelfen.

Gespalten entgegen der Vereinbarung des Nationalpakts, sehen sich die Kurden in Syrien und im Irak heute Krieg, Gewalt und vielfältigsten Problemen ausgesetzt. Ich appelliere an Kurden, Turkmenen, Aramäer und Araber, zusammenzukommen zu einer Nationalen Friedens- und Solidaritätskonferenz, um von den Ansichten des anderen zu lernen und Beschlüsse zu fassen.

In der Geschichte unserer Region nahm das Konzept des "Wir" immer einen wichtigen Platz ein. Doch in den Händen engstirnigen herrschenden Elite wurde die umfassende Idee des "Wir" heruntergebrochen und reduziert auf das "Individuum". Es ist an der Zeit, der Idee des "Wir" mit neuem Leben zu füllen und seinen wahren Geist wiederzuentdecken.

Jenen zum Trotz, die uns spalten und gegeneinander kämpfen sehen wollen, werden wir eine Einheit sein. Wir werden uns verbünden gegen jene, die uns teilen wollen.

Diejenigen, die die Zeichen der Zeit nicht sehen, werden auf den Müllhaufen der Geschichte enden. Diejenigen, die die Strömung des Wasser aufhalten wollen, werden in den Abgrund getrieben. Die Völker dieser Region sind die Zeugen eines neuen Sonnenaufgangs. Die Völker des Mittleren Ostens haben die Feindschaft, Kämpfe und Kriege satt. Sie wollen aufstehen, Schulter zu Schulter; sie wollen neu erblühen, aus der Kraft ihrer Wurzeln heraus. Dieser neue Tag des Newroz ist ein Signalfeuer für uns alle.

Die Wahrheiten, von denen uns die Botschaften von Moses, Jesus und Mohammed künden, erhalten wieder einen Platz in unserem Leben, dank der neuen frohen Botschaften. Die Menschen versuchen, wiederzufinden, was sie verloren haben.

Es geht nicht darum, die Werte der heutigen westlichen Kultur zu leugnen. Wir nehmen ihre Werte von Aufklärung, Freiheit, Gleichheit und Demokratie und führen sie zusammen mit unseren existenziellen Wertvorstellungen und Lebensweisen, um etwas neues daraus zu gestalten.

Der neue Kampf gründet sich auf Ideen, Konzepten und demokratischer Politik. Eine Bewegung für eine große demokratische Offensive hat begonnen.

Meine Grüße gehen an alle, die diese Bewegung für Frieden und eine demokratische Lösung unterstützen und tragen! Meine Grüße gehen an alle, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, auf dass Brüderlichkeit, Gleichheit und die freie Demokratie blühen können!

Es lebe Newroz, es lebe die Freundschaft der Völker!

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Abdullah Öcalan

Gefängnis Imrali, 21. März 2013