Frieden zum Greifen nah: Wieso Kurden in der Türkei erneut hoffnungsfroh in die Zukunft schauen
ARTIKEL von JÜRGEN KLUTE zum KURDISCHEN NEWROZ-FEST 2013 für SACHSENS LINKE
Das Europäische Parlament ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Arbeitsplatz. Die Menschen, die sich hier tummeln, kommen nicht nur aus allen Ecken der Europäischen Union. (Wussten Sie etwa, dass einer der Mitglieder der linken Europafraktion aus Réunion, einer zu Frankreich gehörenden Insel östlich von Madagaskar stammt?) Auch die Geschichten, die die Abgeordneten der europäischen Volksvertretung mitbringen, könnten unterschiedlicher kaum sein: Während die einen die höchsten Stufen der Macht erklommen, verbrachten andere lange Jahre ihres Lebens als politische Gefangene in Haft. Und manche Lebensgeschichte eines EU-Abgeordneten vereint gar beide dieser Kapitel in sich.
Und weil auch die Wege lang sind, die man im Europaparlament zurücklegen muss, um von A nach B zu kommen, ergibt sich so manches spannende Gespräch in Fluren und Aufzügen.
So auch vor genau einem Jahr, als mir der Vorsitzende des Frauenausschusses, Mikael Gustafsson über den Weg lief. Mein schwedischer Genosse Mikael kam gerade aus der Türkei zurück – genauer gesagt aus der kurdischen Millionenstadt Diyarbakir im Südosten des Landes. Dort hatten sich am 21. März – wie jedes Jahr – Hunderttausende Bürger versammelt, um das kurdische Neujahrsfest „Newroz" zu feiern. Aufgeregt erzählte er mir, wie er das erste Mal in Kontakt mit Tränengas und Wasserwerfern kam.
„Newroz" heißt „neuer Tag". Es ist traditionell das wichtigste Fest der etwa 40 Millionen in der Türkei, Syrien, dem Iran und dem Irak lebenden Kurden. In den vier Ländern, die alles andere als Vorzeige-Demokratien sind, stellen Kurden die wichtigste Minderheit. Jahrzehntelang war es ihnen verboten ihre Sprache zu sprechen, ihre Lieder zu singen, ihre Tänze zu tanzen, und ihre Feste zu feiern. Auch das Fest des im Frühling neu erwachenden Lebens fiel der kulturellen Unterdrückung zum Opfer und wurde zu einem der wichtigsten Symbole des Widerstands gegen die Verleugnung der kurdischen Identität.
Während die konservativ-religiös orientierte Regierung unter Recep Erdogan auch 2012 die Newroz-Feiern verbieten ließ, erlebte Diyarbakir dieses Jahr ein friedliches Fest, auf dem etwa eine Million Feiernde ihrer Hoffnung auf Frieden und Gleichberechtigung Ausdruck verliehen. Dahinter steht der Versuch der Regierung, den seit über 30 Jahren andauernden Konflikt mit der bewaffneten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Es ist nicht der erste Anlauf, in dem die Konfliktparteien aufeinander zugehen. Viele Waffenstillstände wurden ausgerufen, viele Gespräche zwischen Unterhändlern beider Seiten geführt, viele Aufrufe für eine politische Lösung der Kurdenfrage unterzeichnet.
Doch während es noch vor wenigen Jahren ein Unding war, sich öffentlich als Kurde zu bezeichnen, wirbt nun selbst Premierminister Erdogan für eine Versöhnung zwischen dem Staat mit seinen „kurdischen Brüdern". Ohne dass bisher wesentliche Details an die Öffentlichkeit gekommen sind, verhandelt die türkische Regierung seit Ende 2012 mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan. Auch dies ein Tabubruch, galt Öcalan doch in den vergangenen 30 Jahren als Staatsfeind Nummer 1.
Dass sich am 21. März dieses Jahres eine Million Menschen friedlich den Frühlingsbeginn feiern durften, lag auch daran, dass Abdullah Öcalan angekündigt hatte, zu diesem symbolisch bedeutsamen Zeitpunkt einen umfassenden Waffenstillstand ausrufen. Vor jubelnden Menschen verlas eine Abgeordnete der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie „BDP" seinen Aufruf, der letztlich noch einen Schritt weiter ging. Die Zeit, in der die Waffen sprechen, sei zu Ende. Es beginne eine neue Ära, in dem Türken und Kurden zueinander finden sollen, um gemeinsam zu neuer Stärke und Einheit zu finden.
Doch die offenen Fragen sind noch lange nicht geklärt. Meint Erdogan, der für seine politische Wandlungsfähigkeit bekannt ist, es wirklich ernst mit Frieden und Versöhnung? Welche Zugeständnisse er den Kurden machen will, hat er bislang weitestgehend offen gelassen. Soll an den Schulen im Südosten des Landes künftig in Kurdisch unterrichtet werden? Dürfen Bürgermeister kurdischer Städte zweisprachige Straßenschilder aufstellen? Und wann sollen die mehreren Tausend Häftlinge entlassen werden, die wegen der Teilnahme an einer unerlaubten Demonstration, dem Ausrufen unerwünschter Parolen oder dem Tragen des falschen Halstuchs angeklagt und verurteilt wurden? Dies sind Fragen, die geklärt werden müssen, wenn die noch aus der Militärdiktatur stammende Verfassung endlich durch eine demokratische und pluralistische Verfassung ersetzt werden soll.
Die Frage der niederländischen Journalistin Fréderike Geerdink bleibt also, ob das Newroz-Fest 2014 das Ende des Blutvergießens gefeiert werden kann oder ob erneut Tränengas, Knüppel und Steine sprechen werden.
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