Europatag 2013: Trotz allem ein Grund zum Feiern?
Zur Debatte um die politische Krise der EU.
Der Europatag am 9. Mai wäre für die BürgerInnen der Europäischen Union eigentlich ein guter Grund zum Feiern. Am 9. Mai 1950 hielt der damalige französische Außenminister Robert Schuman eine Rede in Paris. Mit dieser Rede gab Schuman den entscheidenden Anstoß zu einer tiefen und für damalige Verhältnisse revolutionären politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit der europäischen Nationalstaaten – zunächt und nicht zufällig in der rüstungsrelevanten Montanindustrie –, die heute in der Europäischen Union ihren Ausdruck findet.
Dies sollte gefeiert werden, denn im Rahmen dieses Integrationsprojektes fand eine jahrhundertelange Phase der Kriege zwischen den beteiligten europäischen Völkern bislang ein Ende. Auf den Schlachtfeldern zweier Weltkriege, im Horror der Konzentrationslager hat der Nationalismus des 19. Jahrhunderts auf eine bis dahin unbekannte brutale und menschenverachtende Weise seine Legitimation verloren. Der Abschied vom Nationalismus innerhalb des europäischen Projekts, die zivile und unblutige Aushandlung ihrer Interessenskonflikte und der Aufbau eines breiten und bis dato nicht gekannten Wohlstandes – es ist nicht eben wenig, was den in der EU zusammengeschlossenen Gesellschaften seit mehr als einem halben Jahrhundert gelungen ist!
Den meisten EuropäerInnen ist heute trotz alledem nicht zum Feiern zumute. Denn als Antwort auf die Krise der Europäischen Union haben die tonangebenden nationalen Regierungen Europa eine ebenso stupide wie rücksichtslose Sparpolitik aufgezwungen, die – vor allem in den südeuropäischen Mitgliedsländern der EU – in einem beispiellosen sozialen Kahlschlag große Teile des erreichten Wohlstands zerstört hat.
Egoistisches Gegeneinander der Regierungen treibt Europa zurück in nationalistische Untiefen
Dieser blind verfolgte und dogmatisch begründete Weg hat heute weniger Unterstützer denn je. Nicht nur das EU-Parlament ruft wiederholt zu einer Abkehr von einer verfehlten Sparlogik auf. Auch die EU-Kommission hat die Bundesregierung längst aufgerufen, das Lohnwachstum in Deutschland zu fördern, den Missbrauch von Minijobs zu beenden und ihre Exportüberschüsse abzubauen – kurz: mehr Verantwortung für die Stärkung der europäischen Binnennachfrage zu übernehmen.
Unter dem Diktat der schwarz-gelben Bundesregierung hält der Europäische Rat – das Organ der nationalen Regierungen – weiter mit dogmatischer Blindheit an einem längst an der Wirklichkeit gescheiterten und theoretisch verstaubten neoliberalen Weg der Krisenlösung fest. Die EU schlittert damit immer tiefer in eine ernstzunehmende und im Kern durch und durch politische Krise. Angetrieben vom egoistischen Gegeneinander der europäischen Regierungen erleben wir eine immer weiter um sich greifende Wiedererstarkung einer national bornierten Denkweise.
Um die politische Krise der EU zu überwinden, müssen wir die treibende Kraft der selbstzerstörerischen Sparstrategie identifizieren. Es reicht nicht, mit dem Finger auf „Brüssel" zu zeigen. Verantwortlich für die Krise der EU zeichnet in allererster Linie das Organ, in dem die nationalen Regierungen hinter verschlossenen Türen darum kämpfen, ihre Pfründe zu verteidigen. 2009 haben die Regierungen dem ideen- und farblosesten aller bisherigen Kommissionspräsidenten eine zweite Amtszeit beschert. Die Kommission hat es unter seiner Führung nicht vermocht, für die Zukunft Europas wesentliche Konflikte – etwa um die Einführung gemeinsamer Schuldtitel – für sich zu entscheiden. Anstatt den Rat in seinem Amoklauf durch Europa zu stoppen, hat sich die Kommission dem Willen der Regierungen gefügt.
Erstaunliche Analogien...
Um zu begreifen, worum es auf der derzeitigen Entwicklungsstufe der EU geht, reicht ein Blick in die Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert. Die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei, in die heute niemand mehr ernsthaft zurück will, begann damals – ähnlich wie in den 1950ern mit der Etablierung der Kohle- und Stahlunion – durch die Gründung eines gemeinsamen Zollvereins im Jahr 1834, d.h. mit nichts anderem als mit der wirtschaftlichen Integration der damaligen Kleinstaaten. Die politische Integration in Form der Herausbildung eines deutschen Nationalstaats erfolgte erst in einem zweiten Schritt 1871. Die Demokratisierung dieses damals neuen politischen Gebildes musste in den folgenden Jahrzehnten mühsam erkämpft werden. Den dramatischen und extrem widersprüchlichen Verlauf dieses Demokratisierungsprozesses bis hin zur Niederlage der nationalen Idee, aus der die europäische Idee geboren wurde, kennen wir.
Die Parallen zur Gegenwart sind erstaunlich: Wieder hat die Tiefe der wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten in Europa heute einen Punkt erreicht, dem eine notwendigerweise jetzt eine politische Integration folgen muss – will man das europäische Projekt nicht in seiner Gänze platzen lassen. Der europäische Integrationsprozess ist heute weit fortgeschrittener als der analoge Integrationsschritt im 19. Jahrhundert, der Schritt zum föderalen Europa muss deshalb gleichzeitig mit der Vollendung der europäischen Demokratisierung gemacht werden.
Die Debatten über die Aufgabe oder Zersplitterung der Währungsunion – gleich auf welcher Seite des politischen Spektrums sie geführt werden – zeigen daher in die falsche Richtung. Unabhängig von der Frage, welche Risiken der Versuch, die ökonomische Verflechtung Europas aufzuschlagen, bergen würde, blenden die Debatten über einen möglichen Euro-Ausstieg die politische Motivation der europäischen Integration völlig aus.
Über die ursprüngliche und nach wie vor berechtigte friedenspolitische Begründung hinaus, stellt uns das 21. Jahrhundert vor zusätzliche, nicht minder anspruchsvolle Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Nein, im Alleingang kann weder eine deutsche, noch eine französische, italienische oder griechische Regierung – seien sie noch so ambitioniert – die Regulierung der Finanzmärkte durchsetzen oder den Gefahren des Klimawandels begegnen. Ebensowenig kann die Energie- und Rohstoffversorgung auf nationalstaatlicher Ebene gesichert werden. Wir wissen nicht, welchen weiteren Herausforderungen sich unsere Gesellschaften im Laufe dieses Jahrhunderts werden stellen müssen. Sicher ist jedoch, dass Abgrenzung nach außen und die Suche nach kurzfristigen Vorteilen gegen den Nachbarn keine dieser Probleme wird lösen können.
Nicht nur angesichts des politischen Charakters der Krise der EU wäre es daher dumm und gefährlich, alleine auf die Kosten oder Konstruktionsfehler des Euro zu deuten und die politischen Ziele und Vorteile des europäischen Einigungsprojektes aus den Augen zu verlieren. Insbesondere die gesellschaftliche und parlamentarische Linke hat keinen Grund, sich den Blick durch ökonomische Scheuklappen zu begrenzen. Wir müssen uns stattdessen fragen, ob wir den Rückschritt in die Logik des Nationalstaats verhindern wollen und mit welchen Antworten und Strategien wir uns in die Verteidigung und Weiterentwicklung des europäischen Projekts einbringen wollen.
Die nationalen (!) Regierungen haben eindrucksvoll bewiesen, dass sie nicht fähig sind, ihre kleinstaatlichen Interessen abzulegen, wenn sie in Brüssel unter großem Getöse zusammenkommen. Die Bürgerinnen und Bürger der EU ins Elend zu stürzen, die Regulierung der Finanzmärkte auszubremsen und tot geglaubte nationalistische Ungeister wiederzubeleben, kann keine Grundlage für eine weitere tragende Rolle innerhalb der Europäischen Union sein. Schlüssig wäre es angesichts dessen den Europäischen Rat einer Generalrevision zu unterziehen und ihm eine neue Rolle zuzuweisen, die er konstruktiv auszufüllen vermag. Der Umbau zu einer Länderkammer, in der neben Regierungsvertretern auch Abgeordnete der Parlamente der Mitgliedsländer arbeiten könnten, wäre eine denkbare und zukunftsfähige Option. Die demokratische Legitimierung der Europäischen Kommission sollte eine deutliche Aufwertung erfahren, indem der Präsident der Kommission – gleich eines Regierungschefs – entweder durch das Europäische Parlament oder direkt von den Bürgern gewählt würde. Die Kontroll- und Gesetzgebungskompetenzen der EU-Abgeordneten müssten vervollständigt werden. Und um eine alles umfassende Brüsseler Zentralisierung zu verhindern, müsste schließlich definiert werden, wie ein Europa der Regionen aussehen könnte, in dem Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten in Kommunen und Regionen geschützt und gefördert würden.
Der 9. Mai 2013 mag kein Tag sein, an dem uns zum Feiern zumute ist. Dennoch sollten wir ihn nicht ungenutzt lassen, um uns stärker als bisher für die konkrete Weiterentwicklung des europäischen Friedensprojektes einzubringen. Welche Zukunft wollen wir für die europäische Gemeinschaft? Welche Antworten haben wir zu geben, um mehr Demokratie, mehr soziale Gerechtigkeit und den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen in ganz Europa durchzusetzen? Auf diese Fragen Antworten zu geben, dazu sollte uns der Europa-Tag am 9. Mai motivieren über die Zukunft Europas zu streiten. Das Risiko des Unterlassens mahnt uns bereits ein Tag zuvor. Am 8. Mai gedenken wir der Befreiung Europas durch die Allierten vom Hitler-Faschismus.