Die Zeit der Türken, die im Schnee laufen und Geräusche machen ist vorbei.
KOMMENTAR von CÜNEYT ÖZDEMIR zum FRIEDENSPROZESS in der TÜRKEI
Jahrelang ist der Krieg des türkischen Staates gegen die PKK nicht nur in den rauen Bergen und den schroffen Felsen geführt worden, sondern er ist parallel dazu auch psychologisch mit Hilfe der Medien geführt worden. Ich vermute, dass der erste Dienst, den der Friedensprozess leistet, der ist, dass über viele Themen offen gesprochen wird, die uns all die Jahre zwar bewusst waren, die wir aber nie zur Sprache bringen konnten. Beziehen wir die dutzendfachen Interviews mit Führungskräften der PKK noch mit ein, dann kann sogar gesagt werden, dass die türkische Presse eine „Zeit der Aufklärung" erlebt.
Abgesehen davon, dass Tabus gebrochen werden, werden Themen, über die wir bis gestern nicht einmal wagten nachzudenken, in den Mainstream-Medien nun plötzlich als Alltagsrealität dargestellt. Dass all dieses – sehen wir von Inhalt, Wahrheit oder Lüge einmal ab – überhaupt zum ersten Mal in den Medien des Mainstreams wiedergegeben wird, ist für sich gesehen schon eine „Kommunikationsrevolution". Der Krieg der Türkei gegen die PKK ist immer auch psychologisch und medial geführt worden. In den 1990er Jahren hat der türkische Staat beispielsweise verboten, das Wort „Kurden" überhaupt zu benutzen. Die Definition der damaligen Minister und Ministerpräsidenten, „die Türken, die im Schnee laufen und Geräusche wie „kart-kurt" machen, nenne man Kurden", ist nur eine der beschämenden Erzeugnisse dieses Verbots.
Als sie gemerkt haben, dass ihnen das niemand ihnen abnimmt, ist das Kurdenproblem zum Südostproblem geworden. Auf Befehl des Generalstabs („Befehle sind unter allen Umständen auszuführen") wurde aus den Nachrichtensendungen das Wort „Kurden" verbannt und stattdessen das Wort „Südosten" hinein montiert. Jahrelang konnte noch nicht einmal PeKeKe [korrekte Aussprache für PKK] richtig ausgesprochen werden. Übereinstimmend legte sich der Mainstream auf die Definition „PeKaKa-Terrororganisation" fest und wendete sie an.Auch Abdullah Öcalan wurde im Rahmen dieser Antipropaganda durch nahezu jedes Stadium gezogen. Am Anfang wurde Öcalan – als sei es eine Schande – zum Armenier erklärt. Nach der herrschenden türkischen Doktrin der damaligen Zeit war „Armenier" ein Unwort schlechthin, ein Wort, das es nicht in den Mund zu nehmen galt. (Leider erkennen wir, dass sich in der vorurteilsbeladenen Sprache des Staates noch immer nicht viel geändert hat.) Im Anschluss ist Öcalans Namen das Wort „Babymörder" vorangestellt worden. Einige Zeit später wurde der Begriff aktualisiert und in „Kopf der Separatisten" geändert.
Erstaunlich, wie häufig Öcalan und seine Unterstützer während dieser Zeit entweder die Religions- oder die Volkszugehörigkeit gewechselt haben: Mal wurden sie zu Syrern erklärt, mal zu Armeniern, dann wieder zu Irakern. Aus der Türkei stammten nach Ansicht des türkischen Staates nur wenige ihrer Mitglieder. Und sowohl Öcalan als auch die übrigen Mitglieder der PKK wurden entweder zu Gottlosen, Atheisten, Christen oder Zarathustra-Anhängern erklärt und offiziell von einer Religion in die andere transferiert.
Mit dieser offiziellen Propagandasprache hat der türkische Staat alles erdenkliche versucht, um die PKK zu bezwingen und auszugrenzen. Die Propagandasprache der Medien hat aber auch auf den Kriegsschauplätzen zu unvergesslichen Bildern geführt. In den neunziger Jahren wurden bei Getöteten oder in Gefangenschaft genommenen PKK-Kämpfern Beschneidungskontrollen durchgeführt; die Ohren der getöteten PKKler wurden abgeschnitten… Es ist in diesem schmutzigen Krieg alles Erdenkliche passiert, das ein Mensch einem Menschen nicht antun kann, das mir nicht über die Lippen kommt und das selbst als Gedanke nur schwer zu ertragen ist.
In diesem Bereich führende Propagandisten (wie z.B. Ertürk Yöndem) sendeten zur Verbreitung dieser offiziellen Staatssprache wöchentliche Programme. Die Mainstream-Medien nahmen diese Tipps zur Sprachregelung an und unter Führung großer Zeitungen sind sie in die türkische Umgangssprache eingegangen.
Die Gehirnwäsche dauerte jahrelang. Nur einige wenige Medienleute haben sich der offiziellen Propagandasprache widersetzt. Als Journalist will ich ein Beispiel aus der Praxis nennen : In den neunziger Jahren – der grausamsten Phase des Kurdenkonflikts – war das einzig Neutrale, das wir in der Sendung „32. Tag" tun konnten, die PKK-Mitglieder „PKK-Mitglieder" nennen. Und selbst das hat uns, einschließlich Programmchef und Moderator Birand, nicht wenig Probleme bereitet.
Das zentrale Problem, vor dem wir heute stehen, ist nicht, dass der Frieden nicht schnell genug erreichen ließe, sondern dass sich nicht von heute auf morgen eine Sprache des Friedens entwickeln lässt. Es ist ein Trugschluss darauf zu warten, dass sie auf einmal da ist. Es wird eine Zeit dauern bis sich die offizielle, propagandistische Sprache des türkischen Staates erneuert haben wird. Dabei ist dies kein einfacher Prozess. Generationen sind mit der staatlichen Propagandaprache aufgewachsen. Und dies ist auch die Ursache dafür, dass diese Generationen die in den letzten Wochen von den Mainstream-Medien verbreiteten Neuigkeiten nicht verdauen können. Wir fahren durch einen Zeittunnel, der völlig abkommt von allen jahrelang gekannten Denkwegen.
Für alle, denen es entgangen ist: Die größten Medien haben damit begonnen, die PKKler zum ersten Mal „Guerillas" zu nennen. Die „Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan" (KCK) wurde erstmals nicht als „sogenannte Organisation", sondern eine tatsächlich existierende Organisation benannt, die Namen ihres Vorsitzenden und ihrer Führungspersönlichkeiten wurden beim Namen genannt. Die Frage, ob die binnenmeergroßen Staudämme im Südosten nicht Teil einer militärischen Strategie sind, konnte in den führenden Medien erstmals klar und deutlich gestellt und diskutiert werden.
In den Medien des Mainstream ändert sich sehr viel. Früher wurden diejenigen, die nach Kandil reisten sowohl vom türkischen Staat, von der Justiz als auch von den Medien regelrecht in der Luft zerrissen. Heute gilt dies beinahe für alle, die nicht nach Kandil fahren, um mit der PKK zu reden. Dass die nationalistische Presse darüber witzelte, die PKK-Kämpfer hätten Bananen gegessen, zeigt mehr ihre Denkweise und ihr politisches Unterbewusstsein als irgendetwas anderes. So wie in Istanbul die Menschen Bananen essen, so können auch PKK-Kämpfer in Kandil Bananen essen.
Bei so vielen Vorurteilen muss man sich wohl darüber wundern!
--
Cüneyt Özdemir ist Journalist und arbeitet für CNN Türk die liberale türkische Zeitung Radikal. Die hier dokumentierte Kolumne ist im Original am 30.4.2013 erschienen. Wir bedanken uns beim Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit "Civaka Azad" für die Übersetzung ins Deutsche, die wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit leicht überarbeitet haben.