Zuckerbrot zur Peitsche?

EU-Kommission schlägt Konvergenz-Instrument vor.

01.06.2013
Karsten Peters

Es ist kein Geheimnis, dass nach Ansicht der EU-Kommission und des Rates die gegenwärtige Krise vor allem durch Haushaltskonsolidierung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit zu lösen ist. Der jüngste Vorschlag der Kommission, der jetzt zur Diskussion steht, sieht eine Vorabkoordinierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zwischen den Mitgliedsstaaten vor, wenn die Möglichkeit besteht, dass diese Maßnahmen die wirtschaftliche Situation in anderen EU-Ländern beeinflussen können. Eine solche Wechselwirkung wäre zum Beispiel zu erwarten, wenn in Deutschland irgendwann in ferner Zukunft ein flächendeckender Mindestlohn von zehn Euro eingeführt würde: das Lohnniveau in Deutschland würde schlagartig steigen, die Exporte auch in die europäischen Nachbarländer würden deutlich teurer, Griechenland und andere Staaten hätten eventuell dadurch eine bessere Chance, die gegenwärtige Abwärtsspirale zu durchbrechen. Das ganze funktioniert natürlich auch in umgekehrter Richtung: Senkung der Renten- und Sozialansprüche in Deutschland, Arbeit würde noch billiger als jetzt – und entsprechend die Exporte.

Da in den gegenwärtigen Kommissionsvorschlägen die Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt steht und die Angleichung der Lebensverhältnisse kaum eine Rolle spielt, ist mit diesem Instrument beim gegenwärtigen Stand der Diskussion ein Ende der Austeritätspolitik kaum zu erwarten. Um den Menschen in Europa die bittere Pille der Strukturanpassung ein wenig schmackhafter zu machen, wird daher darüber diskutiert, dass Länder, die ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern, finanzielle Trostpflaster erhalten. Damit sollen die negativen sozialen Auswirkungen von Kürzungsprogrammen abgefedert werden. Das neoklassische Konzept dahinter: ist die Wirtschaft erst einmal auf hohe Wettbewerbsfähigkeit getrimmt, finden alle eine angemessene Arbeit, nur die Durststrecke bis dahin muss überbrückt werden. Dass eine gleichzeitige Haushaltskonsolidierung in der gesamten EU auch die Nachfrage in der gesamten EU einbrechen lässt, dass die geforderte Strukturanpassung die soziale Abwärtsspirale zunächst in der EU und dann wahrscheinlich auch im „Wettbewerb" mit anderen Staaten weiter beschleunigt, dass bereits jetzt in Griechenland, Portugal, Rumänien und anderen EU-Ländern als Folge der Kürzungspolitik bittre Not herrscht, ist bislang kaum Teil des Konzepts – und das, obwohl Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso bereits eingeräumt hat, dass der soziale Zusammenhalt in der EU gefährdet ist und obwohl der Sozialbericht der EU-Kommission den Finger in genau diese Wunde legt.

Die Debatte ist eröffnet

Trotz der düsteren Aussichten: Entschieden ist bislang nichts und die Kommission hat das Thema tatsächlich zur Diskussion geöffnet. Am 7. Mai fand in Brüssel eine öffentliche Konferenz zur künftigen Politik statt, basierend auf den von der Kommission vorgeschlagenen Ideen. Vertreten waren sie fast alle: Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem, im normalen Leben niederländischer Finanzminister, Marco Buti, bei der EU-Kommission in der Abteilung Wirtschaft und Finanzen (DG ECFIN) zuständig für die vorgeschlagenen Konzepte, Sharon Bowles, britische Liberale und Vorsitzende des Wirtschafts- und Währungsausschusses im EU-Parlament (ECON), der portugiesische Finanzminister Vitor Gaspar, Holger Schmieding, wohl als Ersatz für Wolfgang Schäuble und Hans-Werner Sinn, Ökonom bei der Berenberg Bank in London und den beiden Gesinnungsgenossen in Sachen Marktgläubigkeit in nichts nachstehend, sowie zahlreiche Abgeordnete aus mehreren nationalen Parlamenten, NGO-Vertreter, Gewerkschafter und viele andere.

Während Buti erwartungsgemäß den Kommissionsvorschlag unterstützte und vor allem die angekündigten finanziellen Trostpflaster („incentives") als wichtige Maßnahme bei der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit unterstrich, drängten Abgeordnete aus mehreren nationalen Parlamenten darauf, soziale Aspekte sehr viel stärker zu berücksichtigen. Ein Punkt, den auch der Portugiese Gaspar stark machte: Mit Hinweis auf die erheblichen Differenzen zwischen Kreditzinsen in Portugal und denen in Deutschland erklärte Gaspar, in Portugal würde dringend Geld für die Finanzierung von kleinen und mittleren Unternehmen benötigt, aber die Zinsen seien viel zu hoch, während in Deutschland Kredite zu Niedrigzinsen angeboten würden und niemand sie nachfrage. Dagegen müssen ebenso etwas unternommen werden, wie eine aktive Arbeitsmarktpolitik dringend geboten sei.

„Ein Zyniker würde sagen: Kein Wunder, dass sie keine Lösung wollen"

Für Überraschung sorgte Sharon Bowles in ihrem Diskussionsbeitrag. Bereits bei bilateralen Gesprächen am Rande von Ausschusssitzungen äußerte die Britin sich positiv über einen finanziellen Ausgleich zwischen reichen und weniger reichen EU-Ländern – so weit ging sie bei dieser offiziellen Veranstaltung nicht, forderte aber immerhin und in Einklang mit dem Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments, dass eine aktive Wachstumspolitik Priorität werden muss, sie stellte sich also deutlich in Opposition zu der einseitigen Ausrichtung der gegenwärtigen Politik. Und auch sie ging auf die Zinsdifferenzen zwischen reichen und weniger reichen Ländern ein. Mit Blick auf die niedrigen Zinsen für Staatsanleihen in einigen Ländern – sie nannte keine Namen – würde ein Zyniker sagen „kein Wunder, dass diese Staaten keine umfassende Lösung wollen" („no wonder they won't a full fix yet").

Vor allem vor diesem Hintergrund wirkt eine Entscheidung des Europäischen Parlaments zu den Kommissionsvorschlägen eher ernüchternd. In einer offiziellen Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag äußert das Parlament zwar Kritik daran, dass der Preiswettbewerb im Mittelpunkt steht und der Kampf gegen Steuervermeidung ebenso wenig eine Rolle spielt wie Sozial- und Beschäftigungspolitik, im Grundsatz aber werden die incentives als sinnvolles Mittel unterstützt. Dennoch legt das Parlament einige andere Schwerpunkte. In einem von Jürgen Klute eingebrachten Änderungsantrag, der die Hürde der Abstimmung erfolgreich genommen hat, verlangt das Parlament zum Beispiel, dass "getroffene Maßnahmen keine negativen Auswirkungen auf soziale Eingliederung, Arbeitnehmerrechte, Gesundheitsvorsorge oder andere soziale Bereichen haben sollten – auch nicht kurzfristig." Daneben beharren die Abgeordneten auf stärker demokratischer Verankerung, die in den Kommissionsvorschlägen nur eingeschränkt vorgesehene demokratische Kontrolle müsse erheblich ausgebaut, alle entsprechenden Maßnahmen von den Parlamenten bearbeitet werden könenn.

Ein entscheidender nächster Schritt wird das Treffen des Rates Ende Juni sein: Dort wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Haltung zum Wettbewerbspakt verabreden. Bereits für das letzte Maiwochenende haben sich Angela Merkel und Francois Hollande verabredet, um eine gemeinsame Position zu entwickeln – und trotz öffentlicher Verschwisterungsgesten sind die unterschiedlichen Ansätze zwischen beiden noch deutlich auszumachen: Merkel drängt nach wie vor auf Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, während Hollande eine aktive Arbeitsmarktpolitik und Stärkung der sozialen Dimension fordert.

Unterdessen rührt sich in der europäischen NGO-Szene einiges: Auf Initiative österreichischer PolitikerInnen ging am 16. Mai der Aufruf „Europa geht anders" online, getragen von Menschen vor allem aus dem deutschsprachigen Raum spricht sich der Aufruf deutlich gegen den Pakt für Wettbewerbsfähigkeit aus und fordert einen Abbau der massiven wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den einzelnen EU-Staaten, eine Umverteilung von Einkommen und Vermögung und die Einführung einer europäischen Sozialunion.