Jürgen Klute zur Richtungsdebatte um die Zukunft der EU
Wieso der Rückzug ins Nationale keine sozialere Alternative sein kann
Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament ist in der LINKEN ein heftiger Richtungsstreit zwischen eher europafreundlichen und europakritischen Strömungen entbrannt. Jürgen Klute übt scharfe Kritik an der stellenweise undifferenzierten Europakritik. Teile des Programmentwurfs der Linkspartei für die Europawahl sprächen eine dezidiert antieuropäische Sprache. Die Verteidigung der Nation als Schutzraum vor schädlichen äußeren Einflüssen, die Verteidigung von Demokratie und Grundgesetz gegen eine vermeintlich undemokratische EU entsprächen in Diktion und Argumentation ziemlich genau der ideologischen Positionierung des ›Rechtsblocks‹ von Marine Le Pen und Geert Wilders, so Klute.
Diese Positionen werden vor allem von den beiden Strömungen „Sozialistische Linke“ und „Antikapitalistische Linke“ vertreten und fanden auf der Bundesausschusssitzung in Berlin am 30. November 2013 eine breite Unterstützung. Wer so argumentiere, so Klute weiter, finde sich mit seinem Abstimmungsverhalten im Europäischen Parlament dann an der Seite der extremen Rechten im EP wieder. Deshalb könne Die Linke sich nicht länger mit fadenscheinigen Kompromissen vor einer grundsätzlichen Entscheidung zu ihrer Europapolitik drücken.
Während der Entwurf für das Europa-Wahlprogramm in einer Präambel die EU als „neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht“ bezeichnet, stellt sich dem Abgeordneten das Geschehen auf europäischer Ebene deutlich differenzierter dar. Selbstverständlich sei auch das Europäische Parlament nicht der Ort vollkommener Demokratie, selbstverständlich müsse die EU Sozialstandards stärker berücksichtigen. „Aber es ist keineswegs so, wie Teile der Linken glauben machen wollen, dass es auf EU-Ebene keine Sozialstandards gäbe.“
Andreas Fischer-Lescano vom Zentrum für europäische Rechtspolitik (ZERP) an der Universität Bremen hat in seiner Studie „Austeritätspolitik und Menschenrechte – Rechtspflichten der Unionsorgane beim Abschluss von Memoranda of Understanding“ gerade unter Rückgriff auf die EU-Sozialstandards die Troika Politik scharf kritisiert und Teile der Maßnahmen als juristisch überprüfbar eingestuft. Das Problem ist also nicht so sehr das Fehlen sozialer Standards, sondern die Durchsetzung vorhandener Standards in der Praxis. In Deutschland ist dieses Problem bekannt und dem Namen „Differenz von Verfassung und Verfassungswirklichkeit“.
Aber mit Blick zum Beispiel auf die Kritik an der Troika ist das Europäische Parlament ganz klar der falsche Adressat: Die Troika wurde vom Rat bzw. von der Gruppe der Euroländer, also von den Regierungen der Mitgliedsländer ins Leben gerufen. Aber selbst jetzt noch, da Gutachten starken Zweifel daran aufkommen lassen, ob die Troika auf rechtlich sicherem Grund steht, ob sie nicht der Kontrolle des Europäischen Parlaments unterworfen werden muss, wirft sich die Bundesregierung nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in die Brust und stellt fest: Die Troika ist von den nationalen Parlamenten und den nationalen Finanzministern kontrolliert. Damit sei eine vollständige demokratische Kontrolle gewährleistet. Das neoliberale Dogma ist hier wohl eher in Berlin zu verorten.
Je nach Ansatz bieten sich für die Lösung der Euro-Krise verschiedene Wege, wobei die Möglichkeit, den Euro auf die eine oder andere Art abzuschaffen und durch Wiedereinführung nationaler Währungen zu ersetzen, hier nicht in Betracht gezogen werden soll. Zu den fatalen Folgen einer wie auch immer gearteten Abwicklung des Euro sei stattdessen auf einen Artikel von Axel Troost verwiesen. Für den Erhalt des Euro in der gegenwärtigen Situation bieten sich grundsätzlich zwei Wege an:
Weg 1: innere Abwertung
Dieser Kurs wird derzeit von der Bundesregierung, dem Rat und der Troika insgesamt gefahren, und unterstellt, der Euro sei allein aufgrund von Reformdefiziten in den Krisenländern unter Druck geraten. Deshalb setzt die Bundesregierung allein auf Reformen in diesen Ländern. Länder wie Griechenland und Portugal müssen, koste, was es wolle, ihre Defizite abbauen, indem sie genau eines tun: sparen. Die Frage nach den grundlegenden Ursachen wird hier nicht gestellt, wobei von kaum jemandem bestritten wird, dass die Steuererhebung in Griechenland nicht funktioniert, dass die Verwaltung in vielen Bereichen ihren Aufgaben nicht gerecht wird.
Daran ist selbstverständlich zu arbeiten, aber das löst das grundlegende Probleme der wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der EU nicht. Sollte es Griechenland tatsächlich gelingen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen - was zumindest bezweifelt werden kann - wird sich danach innerhalb weniger Jahre eine ähnliche Situation entwickeln wie jetzt, möglicherweise unter etwas anderen Vorzeichen: Griechenland wurde marktreif geschossen, und weil dann Deutschland im EU-Vergleich zu teuer ist, werden hierzulande Renten, Löhne, Sozialleistungen gekürzt, das Gesundheitssystem geschleift und die öffentliche Verwaltung zurechtgestutzt im Namen der Wettbewerbsfähigkeit. Innere Abwertung eben.
Nicht von der Hand zu weisen sind allerdings einige juristische Probleme, die eine Alternative mit sich bringen würde: Ein echter Schwenk in der europäischen Krisenpolitik würde möglicherweise eine Änderung der Europäischen Verträge erfordern. Das ist zumindest die Rechtsauffassung der Bundesregierung bei der zentralen Gesetzgebung zur europäischen Bankenabwicklung, über die derzeit verhandelt wird. Der Fonds zur Bankenabwicklung soll nicht zuletzt die fatale Verbindung zwischen Bankenrettung durch die öffentliche Hand nach einer Bankenkrise einerseits und den Schulden der öffentlichen Hand andererseits kappen: Hat der Bankenrettungsfonds, von den Banken zu finanzieren, genug Geld, soll er einstehen, wenn ein Kreditinstitut ins Wanken gerät.
Das Europäische Parlament setzt sich für eine Bankenabwicklung durch eine EU-Institution ein. Damit soll gewährleistet werden, dass der Fonds im Notfall schnell genug und ohne nationale Egoismen agieren kann. Die Bundesregierung und mit ihr der Rat der EU will dagegen nicht einen einzelnen Fonds auf EU-Ebene ansiedeln, sondern 28 separate Fonds in den Mitgliedsländern Auch die letzte Entscheidung über die Auflösung einer Bank soll auf mitgliedsstaatlicher Ebene verbleiben.
Nach Auffassung der Bundesregierung ist das mit den bestehenden EU-Verträgen nicht anders möglich: Die Abgaben, die für die Finanzierung des Fonds von den Banken erhoben werden sollen, seien rechtlich betrachtet Steuern zu ähnlich und die EU hat kein Recht Steuern zu erheben, Banken hätten bei eventuellen Klagen dagegen durchaus Aussicht auf Erfolg. Daraus ergibt sich, folgt man der Bundesregierung: entweder die EU-Verträge werden entsprechend geändert oder die EU-Ebene bekommt keine entscheidenden Kompetenzen in dieser Frage über den europäischen Bankenabwicklungsfonds.
Eigeninteresse trifft juristische Notwendigkeit?
Selbstverständlich würde eine Vertragsänderung Schwierigkeiten mit sich bringen, immerhin müssten die Mitgliedsländer einstimmig darüber entscheiden – von Großbritannien dürfte es dafür derzeit kaum eine Zustimmung geben. Aber das ist wohl nicht der einzige Grund, warum die Bundesregierung ihr erhebliches Gewicht im Rat nicht einsetzt, um für eine entsprechende Vertragsänderung zu werben. Die Bundespolitik der vergangenen Jahren hat deutlich gezeigt, dass die Regierung durchaus kein Interesse hat, ihre Macht weitergehend auf europäischer Ebene zu teilen. Man arrangiert sich also mit den gegebenen Verhältnissen, macht böse Miene zum bösen Spiel und nimmt wohlwollend in Kauf, dass Bankenabwicklung und Bankenabwicklungsfonds nur in dem Umfang auf EU-Ebene verankert sind, wie es wohl unumgänglich ist.
Fatalerweise entspricht die von linker Seite auch in Deutschland oft geäußerte fundamentale EU-Kritik im Ergebnis dem Vorgehen der Bundesregierung. Ausgestattet mit einem für linke Verhältnisse eigentümlich anmutenden Verfassungspatriotismus fordern Linke verschiedener Couleur, dass so wenig wie irgend möglich auf europäischer Ebene geregelt werden soll. Bleiben wir bei der Voraussetzung, dass Euro und EU erhalten werden sollen, führt das zwangsläufig dazu, dass es auf europäischer Ebene auch mit den Stimmen dieser Linken niemals einen Interessenausgleich geben wird.
Das starke Deutschland, dann unter linker Führung, fordert Griechenland auf, Steuern für Reiche zu erhöhen, ansonsten bleibt alles beim Alten: kein europäischer Ausgleich außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte, keine gemeinsame Aufsicht über europäisch agierende Banken, keine demokratisch verfasste, europäische Kontrolle einer europäischen Bankenaufsicht. Im Ergebnis also alter Wein in neuen Schläuchen: Deutschland fordert Strukturanpassungsmaßnahmen in Griechenland. In der gegenwärtigen politischen Situation hieße das, dass die Linke im Europäischen Parlament die Hände in den Schoß legt, bei Abstimmungen gegen jede Stärkung des Parlaments votiert und keinerlei Versuch unternimmt, mit den Möglichkeiten der EU die katastrophale Situation in Portugal, Irland, Griechenland oder Zypern zu verbessern – außer mit dem oberlehrerhaften Appell, doch mal die Steuern für Reiche zu erhöhen.
Weg 2: gemeinsames Europa
Eine Alternative zu diesem Kurs kann nur auf europäischer Ebene gefunden werden – wohl nicht zuletzt deswegen forderte der griechische Außenminister Evangelis Venizelos Anfang des Jahres, die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds der Kontrolle durch das Europäische Parlament zu unterwerfen (siehe hierzu auch den Artikel „Undemokratisch, unsozial und unbelehrbar“ in diesem Newsletter). Damit ist natürlich noch lange kein Ausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten erreicht, aber zumindest ein Kontrollgremium berufen, das sich schon jetzt ausgesprochen kritisch mit der Arbeit der Troika auseinandersetzt.
Für einen Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Mitgliedsstaaten, der nicht, wie gegenwärtig, in erster Linie von großen, mächtigen Ländern betrieben wird und daher deren Interessen stärker berücksichtigt als die der kleinen, ist eine Kompetenzverlagerung auf europäische Ebene unerlässlich. Ob nun ein solcher Ausgleichsmechanismus in Form einer Clearing Union umgesetzt wird, bei der Überschussländer wie Deutschland einen Teil ihres Außenhandelsüberschusses in einen europäischen Fonds einzahlen, aus dem Investitionsprogramme in Defizitländern finanziert werden oder ob sich ein anderer ausgleichender Mechanismus finden lässt, ist dabei eher zweitrangig. Klar ist aber: der Zwang zu innerer Abwertung mit seinen kastastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Folgen und das Machtungleichgewicht zugunsten der großen EU-Länder hätte ein Ende.
Ähnliches gilt für die bereits erwähnte Bankenabwicklung: Verankert auf europäischer Ebene würde der Fonds nicht in erster Linie den Interessen der Bundesregierung gehorchen, sondern wäre zwangsläufig darauf verpflichtet, die Interessen in den Mitgliedsländern auszugleichen. Und ausgestattet mit dem Recht, kurzfristig Kredite aufzunehmen, falls das von den Banken eingezahlte Geld doch einmal nicht reicht, könnte der Fonds zudem schnell auf mögliche Bankenkrisen reagieren. Damit könnte tatsächlich der Teufelskreis zwischen Bankenkrisen, Bankenrettung durch die öffentliche Hand, höherer öffentlicher Verschuldung, Kürzungsprogrammen und Schuldenschnitten und daraus folgenden neuen Bankenkrisen durchbrochen werden. Negativbeispiel sind Zypern und Griechenland. Öffentliche griechische Banken hielten, wie auch öffentliche deutsche Banken, große Mengen griechischer Staatsanleihen. Nach dem Schuldenschnitt Anfang 2012 für griechische Anleihen gerieten einige dieser Banken, etwa die griechische Postbank, in Schieflage, weil sie Wertkorrekturen an den griechischen Staatsanleihen vornehmen mussten. Die Postbank zum Beispiel wurde bis zum Sommer vom griechischen Bankenrettungsfonds verwaltet und, nachdem ein großer Teil der gefährlichen Produkte in einem Korb beiseite gelegt wurde, von der ebenfalls griechischen Eurobank übernommen. Der Korb liegt nach wie vor in der Verantwortung der Steuerzahler. Mit verursacht durch die enge Vernetzung zwischen Griechenland und Zypern wurden bald nach dem griechischen Schuldenschnitt auch zyprische Banken, die ebenfalls große Mengen griechischer Anleihen hielten, in Mitleidenschaft gezogen – mit bekannten Folgen.
EU setzt internationalen Rohstoffkonzernen deutliche Grenzen
Auch mit Blick auf konkrete Gesetzgebungsvorhaben ist der Ansatz, die vermeintlich gut ausgleichende und soziale Demokratie in Deutschland sei gegen neoliberale Angriffe aus Brüssel zu verteidigen, leicht zu entkräften. Im Sommer vergangenen Jahres verabschiedete das Europäische Parlament – nicht etwa der Bundestag - eine Richtlinie, die Rohstoffunternehmen und große Wald bewirtschaftende Unternehmen mit Sitz in der EU verpflichtet, genau Rechnung darüber abzulegen, welche Lizenzgebühren, Konzessionen und andere Entgelte sie wo zahlen, immer bezogen auf einzelne Abbauprojekte. NGOs wie Misereor und viele andere bezeichnen diese Richtlinie als Meilenstein gegen Armut und Korruption, verbergen sich doch hinter diesen Zahlungen durchaus auch Schmiergelder, mit denen regionale Warlords finanziert werden, während die lokale Bevölkerung unter oft katastrophalen Bedingungen die gefährliche Arbeit leisten muss ohne dafür auch nur im Ansatz angemessen bezahlt zu werden. Von den ökologischen Folgen ganz zu schweigen. Durchgesetzt wurde das aber eben von der „Ausbeuter-Union“ und nicht vom Bundestag.
Es ist völlig klar: die EU ist weder das Schlaraffenland noch ist sie der Hort des demokratischen Sozialismus, aber bei aller berechtigten Kritik: Europa geht nur gemeinsam und was in Europa geht, geht mit einer starken linken, solidarischen Fraktion besser, die nicht den nationalstaatlichen Kurs stärkt, sondern dem Rat als Vertretung der Mitgliedsländer eine starke linke, europäische Position entgegen hält. Die Stärke der Mitgliedsländer hat sich gerade letzte Woche gezeigt, als der Rat der Einführung von Positionslimits zur Bekämpfung von Nahrungsmittelspekulation nur mit deutlichen Einschränkungen zustimmen konnte und damit die Vorschläge des EP zwar nicht vom Tisch bekommen, aber doch aufgeweicht hat – die nationalen Interessen einzelner Mitgliedsländer wiegen im Rat schwerer.
Gerade vor dem anstehenden Wahlkampf muss die Linke in Deutschland sich entscheiden, welchen Weg sie einschlagen will – es dürfte kaum möglich sein, die beiden gegensätzlichen Positionen zu vereinen. Eine klare proeuropäische Positionierung einschließlich einer klaren linken Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung der EU im Wahlkampf wäre eine zukunftsorientierte Alternative zur Bundesregierung und vor allem zur AfD und zur CSU.