Spirale abwärts - Das Diakonische Werk und der Mindestlohn
Jürgen Klute unterzieht die Kernsätze des Diakonischen Werkes der EKD zum Mindestlohn einer kritischen Sichtung. Der Autor ist evangelischer Pfarrer, Referent an der Evangelischen Stadtakademie Bochum und Mitglied des Parteivorstandes der Partei "Die Linke".
Mitte April preschte der Verband diakonischer Dienstgeber (VdDD) mit einer Presseerklärung vor, in der er Mindestlöhne jeder Art strikt ablehnt. Ganz im Sinne neoliberaler Ideologie und gegen alle praktischen Erfahrungen in den EU-Nachbarländern hält der VdDD Mindestlöhne für ein untaugliches Mittel und zudem für einen rechtswidrigen Eingriff in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Artikel 140 des Grundgesetzes. Offensichtlich wollte der VdDD durch dieses Vorpreschen seine Position als die Position von Kirche und Diakonie durchsetzen.
Die Kernsätze des Diakonischen Werks der EKD (DW) vom 14. Juli 2008 haben dieses Ansinnen des VdDD zurückgewiesen und den VDDD als Meinungsmacher im kirchlichen Bereich in die Schranken verwiesen. Diese Klarstellung war überfällig und ist zu begrüßen. Inhaltlich begrüßenswert an den Kernsätzen ist, dass sie einen existenzsichernden Lohn fordern, von dem man leben kann, ohne weitere staatliche Zuschüsse beantragen zu müssen. Nicht falsch ist die Feststellung im Schlussabsatz des Papiers, dass sich eine angemessene Wertschätzung geleisteter Arbeit auch in einer angemessenen Entlohnung ausdrückt, wenngleich diese Formulierung eine fragwürdige Moralisierung von Lohnarbeitsverhältnissen impliziert und ein paternalistisches Verhältnis zwischen Lohnabhängigem und Lohnzahlendem zum Ausdruck bringt, das von einem wirtschaftsdemokratischen Verständnis von Arbeitsbeziehungen weit entfernt ist.
Die Kernsätze nennen einen Bruttomonatslohn von 1.200 Euro als Mindestlohn bei einer Vierzig-Stunden-Woche. Bei unterstellten 160 Arbeitsstunden pro Monat ergibt das exakt einen Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro pro Stunde. Das DW übernimmt also die aktualisierungsbedürftige Mindestlohnforderung der Gewerkschaften sowie das übliche Berechnungsmodell für diesen Wert. NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann hat im vergangenen März festgestellt, dass erst ab einem Bruttolohn von 12,90 Euro pro Stunde bei einer Vollzeitstelle ohne staatliche Zuschüsse auszukommen sei. Diese Zahl sei den Zahlen des DW als Maßstab zur Seite gestellt.
Irritierend ist die folgende Bemerkung in den Kernsätzen: "Bei einem so für alle Branchen gleichermaßen festgelegten Mindestlohn müssen die sonst eintretenden negativen Arbeitsmarkteffekte (Stellenabbau) durch staatliche Leistungen an die Arbeitgeber ausgeglichen werden. Dies würde den gleichen Effekt hervorrufen wie ein Kombilohn." Hier wird offenbar einer Argumentationsfigur Rechnung getragen, die noch 2006 auch von Mitarbeitern des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD vertreten wurde, nämlich, dass ein Mindestlohn Arbeitsplätze kostet.
Empirisch sind Arbeitsplatzverluste infolge der Einführung eines Mindestlohnes in den EU-Nachbarländern jedoch nicht nachweisbar. Die Vorschläge für einen gesetzlichen Mindestlohn sehen vielmehr Übergangsfristen vor, wie sie in Großbritannien erfolgreich angewandt wurden. Ihn darüber hinaus mit Kombilohnmodellen, die als Lohnsubventionen zugunsten der Wirtschaft zu kritisieren sind, in Verbindung zu bringen, ergibt keinen Sinn, außer den, dass der Mindestlohn durch solche Zuordnungen unsachgemäß in ein schlechtes Licht gerückt werden soll.
Formal korrekt sind die Kernsätze mit der Aussage, dass die Diakonischen Werke Tarifstrukturen haben, die deutlich oberhalb der Mindestlohnforderung von 7,50 Euro liegen. Nicht erwähnt wird der Verdacht, dass in einzelnen Bereichen einzelner Diakonischer Werke untertariflich gezahlt wird - zu seiner Erhärtung fehlen allerdings bisher fundierte Belege. Es gibt nur Einzelaussagen, auch solche, nach denen in einigen Bereichen der Diakonie die Stundenlöhne bis auf vier bis fünf Euro eingebrochen sind. Eine wissenschaftliche Untersuchung hierzu ist dringend erforderlich.
Ein anderes Problem, über das die Kernsätze schweigen, sind Ausgliederungen von Teilbereichen Diakonischer Werke in Leiharbeitsfirmen. In solchen diakonieeigenen Leiharbeitsunternehmen liegen die Löhne - abhängig von der Tätigkeit, der Einstufung, von Alter und Dienstzeit - zwischen 20 und 30 Prozent unterhalb der in diakonischen Einrichtungen üblichen Tarifstrukturen. Diese Löhne bewegen sich zwar innerhalb des Bereichs der Löhne, die nach Laumanns Aussage auf staatliche Zusatzleistungen angewiesen sind. Doch sie liegen immer noch über einem Brutto-Stundenlohn von 7,50 Euro.
Keine Arbeitsplatzverluste
Aber das ist die heutige Situation. Die Lohnspirale nach unten ist mit der einmaligen Ausgliederung von Betriebsteilen nicht gemindert. Wird der ständige Wettbewerbsdruck auf die Träger nicht gestoppt, wird dies die Leiharbeitstarife in absehbarer Zeit auch unterhalb die 7,50 Euro-Marke drücken. Dieser Lohnwettbewerb wird auch vor den offiziellen Tarifen der Diakonie nicht halt machen. Die Kernsätze begrenzen sich mit ihrer Aussage nicht auf den Krankenhausbereich, sondern beziehen sich auf den gesamten Bereich diakonischer Dienste. Dazu gehören auch häusliche Pflegedienste. Gerade in diesem Bereich ist die Situation noch dramatischer als in den Krankenhäusern. Über das Internet werden 24-Stunden-Pflegedienste mit Kräften aus Osteuropa angeboten, deren Stundenlöhne weit unter dem geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro liegen.
Eine klare Positionierung des DW zu dieser Form moderner Ausbeutung wäre nicht nur sinnvoll, sondern auch nötig gewesen. Dieses grenzüberschreitende Lohndumping drückt nicht nur die Löhne der hiesigen Pflegekräfte, sondern betrügt auch die osteuropäischen Pflegekräfte um den ihnen zustehenden gerechten Lohn, für den sich auch die Kernsätze des DW einsetzen. Im Rahmen des geltenden EU-Rechts ist dieses grenzüberschreitende Lohndumping nur durch einen gesetzlichen Mindestlohn zu unterbinden.
Zu Recht wird in den Kernsätzen darauf verwiesen, dass für die Diakonie zurzeit das Hauptproblem die Kostendeckelung infolge der so genannten Gesundheitsreformen ist. Die Hauptursache dafür liegt in der Einführung der Fallpauschalen im Krankenhausbereich. Seit ihrer Einführung werden nicht mehr die real gezahlten Löhne, also die Tariflöhne, den Kostenberechnungen zugrunde gelegt, sondern eine Lohnsumme, deren Berechnung alles andere als transparent ist und die unterhalb der Tariflöhne liegt. Hier ist dringend eine politische Richtungsänderung durchzusetzen. Faktum ist, dass zunächst die rot-grüne und nun die schwarz-rote Bundesregierung den Wettbewerbsdruck auf die Träger bewusst und gezielt erzeugt hat. Durch Wettbewerbsdruck die so genannten Lohnnebenkosten
(die tatsächlich aufgesparter Lohn sind) zugunsten der Unternehmensgewinne zu senken, ist das Kernanliegen der von Gerhard Schröder durchgeboxten Agen da 2010.
Allein um Kostensenkung ist es in allen bisherigen so genannten Gesundheitsreformen gegangen, nicht um eine Verbesserung der Gesundheitsvorsorge. Auch dazu schweigen die Kernsätze des DW. Hier hätte es nahe gelegen, unterstützend auf die ver.di-Kampagne "Der Deckel muss weg!" einzugehen. Wenn das DW ernsthaft an einer Überwindung der zu Recht kritisierten allein auf Kostensenkung ausgelegten Politik der rot-schwarzen Koalitionsregierung im Gesundheits- und Pflegebereich interessiert ist, dann wird sich das DW aktiv in zivilgesellschaftliche Bündnisse gegen diese Politik einbringen müssen statt sich in verbalem Taktierertum zu verlieren und über wesentliche Fragen einen Mantel des Schweigens zu decken.
Der niedrigste Tarif im BAT-KF (Hilfsarbeiten im Küchenbe reich) beträgt brutto 1.286 Euro pro Mo nat. Das entspricht einem Bruttostundenlohn von 7,68 Euro. Pflegehelferinnen und Alten pflegehelferinnen (Voraussetzung: eine meist sechswöchige Kurzausbildung) haben nach BAT-KF einen monatlichen Bruttolohn von 1.575 Euro. Das entspricht einem Bruttostun den lohn von 9,40 Euro.
Das Eingangsgehalt einer exa minierten Krankenpflege rin/ei nes examinierten Krankenpflegers (Voraussetzung: eine dreijährige Ausbildung) beträgt 1.850 Euro. Das entspricht einem Bruttostundenlohn von 11,05 Euro. Zum Vergleich: Der BZA-Tarif, der für Leiharbeit verbreiteteste Tarif, entlohnt eine examinierte Pflegekraft mit einem Eingangs gehalt von 1.568 Euro. Das ent spricht einem Bruttostunden lohn von 9,37 Euro. Hinzu kommt, dass der BZA zwei Tage weniger Urlaub vorsieht als der BAT-KF und ein Weihnachtsgeld von 150 Euro anstelle der 90 Prozent eines 13. Monatsgehaltes des BAT-KF.
Im Internet wird häusliche 24-Stundenpflege für einen monatlichen Betrag von 1.000 bis 1.500 Euro angeboten.
NRW-Arbeitsminister Laumann geht davon aus, dass erst ein Bruttostundenlohn von 12,90 Euro bei einer Vollzeitstelle ein Auskommen ohne staatliche Zuschüsse ermöglicht. Das entspräche bei 167,5 Arbeits stunden pro Monat einem Bruttolohn von 2.160,? Euro.
Erschienen in zeitzeichen 10/2008.