Einige inhaltliche Positionen zu dem am 29. September 2008 im Parteivorstand DIE LINKE. diskutierten Entwurf für ein Europawahlprogramm
von Jürgen KLUTE, erschienden in SOZIALISTISCHER GERAER DIALOG (Nr. 16)
Seit dem das Europa-Wahlprogramm der LINKEN am 29. September erstmals auf der Tagesordnung des Parteivorstandes gestanden hat, ist darum eine heftige innerparteiliche Debatte entbrandt, die sehr schnell auch den Weg in einige Medien gefunden hat.
Die Kritik der ersten Vorlage hatte sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte.
Aus formaler Sicht wurde der in sich nicht stringente Aufbau kritisiert. Ein Wahlprogramm sollte sinnvollerweise stilistisch einheitlich sein. In der ersten Vorlage waren hingegen die unterschiedlichen Schreib- und Argumentationsstile der verschiedenen Autoren und Autorinnen noch deutlich erkennbar. Und manche Aussagen waren einfach in einer Sprache formuliert, die einem Wahlprogramm nicht entsprechen. Wenn es beispielsweise heißt, "Asylrecht ist zu gewähren.", dann ist das inhaltlich sicher unstrittig in der LINKEN. Dem Charakter eines Wahlprogramms wäre aber eine klare Positionierung und Forderung der LINKEN angemessener. Klar zu formulieren, was DIE LINKE will, sind wir den Bürgerinnen und Bürgern, unseren Wählern und Wählerinnen schuldig.
Da diese Kritikpunkte nicht durch einzelne Änderungsvorschläge zu beheben gewesen wären, hat der Parteivorstand eine Überarbeitung des Entwurfs beschlossen. Die überarbeitete Fassung orientiert sich formal an dem Schema: Benennung der politischen Ziele der LINKEN zu den behandelten Politikfeldern (was für eine EU will DIE LINKE, was sind ihre europapolitischen Ziele) – Benennung der politischen Kontroversen zu dem jeweiligen Politikfeld – konkrete Forderungen der LINKEN zu dem Politikfeld.
Mit diesem Schema soll deutlich gemacht werden, dass DIE LINKE für Europa eintritt, aber nicht für irgendein Europa, sondern für ein demokratisches, soziales, ziviles und ökologisches Europa, also für eine Alternative zu einem Europa als einem neoliberalen militärbasiertem Wirtschaftsprojekt. Auf diese Weise kann sich DIE LINKE gut und erfolgreich gegen eine rechte, nationalistische Europa-Kritik abgrenzen, die es eben auch gibt. Das wird in der Debatte um Europa ein gewichtiger Punkt sein.
Zugleich hat sich der überarbeitete Entwurf deutlich der Wahlplattform der EL angenähert.
Die Genossinnen und Genossen, die den ersten Entwurf des Europa-Wahlprogramms verteidigen, halten dessen Kritikern vor allem Europafeindlichkeit vor. Mit dieser Argumentation läuft man aber in eine Falle. Wer so argumentiert, lässt nur mehr zwei Optionen zu: Nämlich für oder gegen Europa zu sein können, wobei die, die als europafeindlich abgestempelt werden, schnell in eine rechte oder zumindest nationalistische gestellt werden. Damit verbaut man sich die Möglichkeit einer differenzierten Kritik an der EU und damit eben die Möglichkeit einer politischen Debatte über die EU und Europa (was nicht das gleiche ist). Sich freiwillig in eine solche argumentative Falle zu begeben, ist politisch nicht geschickt. Denn es gibt einiges an Kritikpunkten am gegenwärtigen Konzept der EU. Dazu muss DIE LINKE sich verhalten, Kritik formulieren und ggf. auch Alternativentwürfe vorlegen.
Ein paar dieser kritischen Punkte, an denen es schlicht nicht ausreicht, sich für oder gegen Europa zu positionieren, sondern an denen präziser zu benennen ist, was linke Positionen sind, sollen im folgenden etwas ausführlicher erläutert werden.
Zunächst einmal sei angemerkt, dass Europa und die EU nicht identisch sind. Nicht alle Länder Europas gehören der EU an. Und die EU ist deutlich umfassender als das geografische Europa. Denn zur EU gehören noch einige Überseegebiete, wie zum Beispiel Milila und Ceuta, zwei spanische Territorien auf marokkanischem Gebiet, aber auch die vor der Westafrikanischen Küste liegenden Inseln Madeira (portugiesisch) und die Kanaren (spanisch). Im Norden Südamerikas – angrenzend an Brasilien, das dadurch das südlichste Nachbarland der EU ist – liegt französisch Guayana, ein französisches Überseedepartement – aus Sicht des französischen Staates ist Guayana keine Kolonie, sondern Teil Frankreichs. Im Anhang II zum Vertrag von Lissabon (S. 425) sind 26 überseeische Länder und Hoheitsgebiete aufgelistet, auf welche der vierte Teil des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (= der 2. Vertrag der beiden gleichrangigen Verträge, die zusammen den Vertrag von Lissabon bilden) Anwendung findet. Diese Länder und Hoheitsgebiete sind der EU assoziiert. Sie verteilen sich von Grönland über Bermuda und den Malvinas (Falkland Inseln) bis hin zu den britischen und französischen Antarktisgebieten über den ganzen Globus. Nach der Sinnhaftigkeit einer solchen territorialen Ausdehnung der EU, die ja ein Nachklang europäischer Kolonialpolitik bzw. europäischen Imperialismus ist, muss zumindest gefragt werden.
Ein zweites kritisches Thema ist die "Festung Europa". Die von der EU eingerichtete "Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX)" schirmt die EU mit modernsten technischen Mitteln vor dem Zustrom von Flüchtlingen ab. Auf dem Mittelmeer führt das Jahr für Jahr zu Hunderten von Toten Migranten und Migrantinnen. DIE LINKE gründet ihr Programm auf den Menschenrechten. Zu einer solchen Abschirmungspolitik der EU kann DIE LINKE deshalb nicht schweigen und noch weniger kann sie ihr zustimmen. Sie hat nach den Fluchtursachen der Migranten und Migrantinnen zu fragen und auf deren Beseitigung zu drängen. Auch auf den Tatbestand, dass die EU nicht unbeteiligt ist an der Generierung der Fluchtursachen, hat DIE LINKE kritisch einzugehen. DIE LINKE hat sich mit diesem Thema aber auch deshalb kritisch auseinanderzusetzen, weil sie sich als politisch-parlamentarische Verbündete sozialer Bewegungen versteht. Will sie glaubwürdig bleiben bei Organisationen, die sich um das Schicksal von Migrantinnen und Migranten sowie um Asylsuchende kümmern (wie z.B. Proasyl), dann muss sie schlüssig erklären, dass sie FRONTEX und die Abschottungspolitik der EU nicht mitträgt, und politische Alternativen zur "Festung Europa" entwickeln, die den Menschenrechten entsprechen.
Gegründet wurde die EU (bzw. deren Vorläuferorganisationen) nach dem 2. Weltkrieg u.a. mit dem Ziel, durch wirtschaftliche Integration einem erneuten Krieg in Europa entgegenzuwirken. Dem entsprechend hat sich die EU-Politik lange Zeit auf wirtschaftliche und bedingt auch auf soziale Fragen konzentriert. Nun aber wird mit der "Europäischen Verteidigungsagentur" (Art. 42 ff. des Vertrages von Lissabon) die EU militarisiert. Dies steht im Widerspruch zu den ursprünglichen Zielen der EU. Schaut man sich die Artikel 42 ff. des Vertrages von Lissabon an, dann fällt auf, dass der Vertrag (dem von seinen Protagonisten schließlich Verfassungsrang zugesprochen wird) vorsieht, die Entscheidungen über militärische Missionen dem Rat (Ministerrat) zu übertragen und nicht etwas dem Europaparlament: "Der Rat erlässt die Beschlüsse über Missionen nach Absatz 1; in den Beschlüssen sind Ziel und Umfang der Missionen sowie die für sie geltenden allgemeinen Durchführungsbestimmungen festgelegt. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sorgt unter Aufsicht des Rates und in engem und ständigem Benehmen mit dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee für die Koordinierung der zivilen und militärischen Aspekte dieser Missionen." (Art. 43 (2), Vertrag von Lissabon). Hier wird also nicht nur eine Militarisierung der EU betrieben, sondern die Entscheidungsprozessen über die vom Vertragstext vorgesehenen Aktivitäten der "Europäischen Verteidigungsagentur" werden zugleich einer parlamentarischen Kontrolle entzogen.
Diese Entwicklungen sind im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie zu sehen. Sie wurde auf einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten im März 2000 in Lissabon verabschiedet. Danach soll die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt gemacht werden. Der Aufbau der "Europäischen Verteidigungsagentur" dürfte vor allem auch der militärischen Absicherung der Lissabon-Strategie dienen, der die gesamte Wirtschaftspolitik der EU unterworfen ist. Gestützt wird diese Einschätzung durch die Entwicklung von Strategien zur Sicherung der Rohstoffversorgung, wie sie zwischen der deutschen Wirtschaft und der Bundesregierung entwickelt werden. (Vgl.: "Rohstoffsicherung: Merkel für Übernahme ausländischer Bergbaufirmen". Süddeutsche Zeitung vom 20. 03. 2007)
Aber auch die Lissabon-Strategie als solche ist kritikwürdig. Ziel linker Politik kann es doch nicht sein, andere Länder ökonomisch zu deplatzieren. Eine ökonomische Deplatzierung bedeutet immer auch die Absicherung einer machtpolitischen Vorrangstellung. Wer so denkt, hat einen Neo-Imperialismus als Ziel vor Augen.
Angesichts der militärischen Desaster in Afghanistan, Irak, in der Balkan-Region sowie in einigen Regionen Afrikas ist es an der Zeit, militärischen Konfliktlösungen eine konsequente Absage zu erteilen und die noch aus der Zeit des kalten Krieges überkommenen Militärbündnisse durch zu entwickelnde zivile Konfliktlösungsmodelle und -institutionen und entsprechende politische Bündnisse zu ersetzen. Dies entspricht alten Forderungen der Friedensbewegung.
An Stelle der Lissabon-Strategie sollte eine Strategie treten, die darauf zielt, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der EU dazu zu nutzen, einen solidarischen Beitrag zur Überwindung von Hunger und Armut zu leisten und zu einer weltweiten Wohlstandsmehrung beizutragen.
Dies ist auch aus klimapolitischen Gründen erforderlich, wie die gerade erschienene Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Energie, Umwelt "Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt" eindrücklich darlegt. Denn ohne eine Lösung der sozialen Frage, so die Studie, ist eine Lösung der klimapolitischen Frage nicht realisierbar. Und die soziale Frage wird nicht mehr durch Wachstum zu lösen sein, wie es in der Studie weiter heißt, sondern "Armutslinderung" erfordert "Reichtumslinderung". Die Studie wurde übrigens als Grundlegung einer entsprechenden Kampagne vom Evangelischen Entwicklungsdienst (eed), Brot für die Welt und den BUND in Auftrag gegeben. DIE LINKE sollte mit ihren Positionen auch hier zumindest anschlussfähig bleiben.
DIE LINKE versteht sich als Partei, die konsequent für den Erhalt und den Ausbau öffentlicher Dienste, Güter und öffentlicher Daseinsvorsorge eintritt sowie für eine Rekommunalisierung bereits privatisierter öffentlicher Dienste. Mit der Dienstleistungsrichtlinie (auch als Bolkestein-Hammer bekannt) und dem Weißbuch für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom Mai 2004 hat die EU sich nicht gerade als Verteidigerin öffentlicher Dienst erwiesen. Das EU-Weißbuch unterwirft auch die öffentlichen Dienste und Güter der Lissabon-Strategie (vgl. S. 5) und bevorzugt deutlich so genannte öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP/PPP) bei der Erbringung öffentlicher Dienste (vgl. insbes. S. 6, 8 u. 18). Flankiert wird diese Politik durch die EU-Förderbank, die PPP-Projekte förderprogrammatisch unterstützt. Die Problematik von ÖPP/PPP hat Werner Rügemer in seinen Publikationen wiederholt fundiert dargelegt.
Ein zentraler Begriff in diesem Zusammenhang ist der der wirtschaftlichen Dienstleistungen. Denn sie unterliegen dem EU-Wettbewerbsrecht. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie hat in ihrer ersten Fassung alle Dienstleistungen, die gegen Entgelt erbracht werden, als wirtschaftliche Dienstleistungen definiert. Bei dieser Definition spielte es keine Rolle, ob der Nutzer der Dienste oder aber eine Sozialversicherung bzw. die öffentliche Hand das Entgelt zahlt. Das hätte bedeutet, dass jeder Kindergarten, jede ärztliche Dienstleistung, ein Studium mit Studiengebühren, aber auch jedes Jugendzentrum, jede Suchtberatung, jede Lebensberatung, jede Arbeitslosenberatung, etc. in gemeinnütziger Trägerschaft, die durch die öffentliche Hand gefördert werden, eine wirtschaftliche Dienstleistung dargestellt hätten und dem EU-Wettberwerbsrecht unterworfen gewesen wären. Der so genannte Non-Profit-Sektor als ein Wirtschaftssektor, der eben nicht nach dem Prinzip der Profitmaximierung arbeitet und somit nicht an kaufkräftiger Nachfrage orientiert ist, sondern an gesellschaftlichen Bedarfen, wäre damit zerstört worden. Mit großen Anstrengungen ist im Zuge der Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie die Definition der wirtschaftlichen Dienstleistungen modifiziert worden. Im Vertrag von Lissabon, der im April 2008 veröffentlicht wurde, heißt es in Artikel 57: "Dienstleistungen im Sinne dieser Verträge sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen." Was mühsam aus dem Bolkestein-Hammer herausdebattiert worden ist, kehrt also hier mit (vermeintlichem) Verfassungsrang zurück.
Offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert werden soll (Art. 120 Vertrag von Lissabon), sowie das vorrangige Ziel der Preisstabilität (Art. 119 (2) Vertrag von Lissabon) sind die Maximen der Wirtschaftspolitik der EU. Dies kann nicht ernsthaft als ein linkes Wirtschaftskonzept definiert werden – ganz abgesehen davon, dass die hier favorisierten Marktliberalisierungen eine zentrale Ursache der gegenwärtigen Finanzmarktkrise darstellen. Auch kann die Aufnahme dieser Zielvorgaben in den Vertrag von Lissabon nicht Ziel linker Politik sein. Denn damit würde einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb aus Sicht der Verteidiger des Vertrags von Lissabon Verfassungsrang zugesprochen werden, neben der andere Formen des Wirtschaftens wie die öffentliche kommunale Wirtschaft oder der Non-Profit-Sektor letztlich kein Bestandsrecht mehr hätten.
Schaut man dann in die Abschnitte des Vertrags von Lissabon zur Sozialpolitik, begegnen dort durchgehend vage Formulierungen, wie "Der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Unionsebene kann, falls sie es wünschen, zur Herstellung vertraglicher Beziehungen einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen führen." (Art. 155 (1)) Während dessen interpretiert der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Vergaberichtlinie der EU so eng, dass Tariftreueregelungen nur auf einem niedrigsten Niveau zulässig sind.
DIE LINKE steht für Europa – aber nicht für irgendein Europa. Zwar sieht der Vertrag von Lissabon ein Initiativrecht des Europaparlaments für die Einbringung von Gesetzesvorschlägen vor. Dem stehen aber wirtschafts- und militärpolitische Kröten gegenüber, die eine LINKE nicht schlucken kann, ohne sich daran zu verschlucken. Wer sonst – wenn nicht DIE LINKE – sollte die Kritik daran formulieren und politische Alternativen in die Debatte einbringen? Die oben dargelegten Punkte zeigen auf, wie weit wir derzeit entfernt sind von einem demokratischen, sozialen, zivilen und ökologischem Europa. Deshalb tritt DIE LINKE zum Europa-Wahlkampf an, um für ein demokratischeres, sozialeres, zivileres und ökologischeres Europa zu kämpfen.
Dies muss in einem Wahlprogramm 2009 der Partei DIE LINKE. exakt formuliert sein. Schlussfolgernd heißt das: Auch der jetzt vorliegende Entwurf bedarf einer weiteren linken Debatte. Dieser Artikel soll ein Anstoß dazu sein.
Jürgen Klute ist Referent an der Evangelischen Stadtakademie Bochum und Mitglied des Vorstandes der Partei DIE LINKE.